Messerstecherei

Eine Kurzgeschichte mit dem Namen: Messerstecherei. Das Bild zeigt eine dunkle Brücke bei Nacht. Die Lichter eines Busses sind aufgrund hoher Belichtungszeit nur als Linien zu erkennen

Eine Kurzgeschichte über zwei Männer, die sich in der Nacht unter einer dunklen Brücke begegnen. Was glaubst du, was passiert?

Lesedauer: 20 – 25 Min.


Er hatte den Abend als eine kleine Feierlichkeit geplant gehabt. Ein Konzert, drei Bands, ein paar Bier, dann noch einen Happen zu essen und im Anschluss gemütlich nach Hause. Ein guter Samstagabend, spätestens um eins im Bett. Nicht der Rede wert. Jedoch war er nach dem Gig noch mit einigen Bekannten in einer Kneipe gelandet, worauf im Anschluss eine Bar folgte, ehe er dann mit den Bekannten und einigen ihm eher Unbekannten in einer noch unbekannteren Wohnung versackt war, wo sie alle gemeinsam die als anfänglich klein geplante Feierlichkeit zu einem Film mit Überlänge dehnten – ohne Logenplatz.
    Der Küchenstuhl war unbequem, die Unterhaltungen nach all der Dauer zermürbend, und das Bier schmeckte ihm auch nicht mehr. Er war müde und wollte heim. Er zog sich seinen grauen Wollpullover über das Hemd, band seinen wollenen Schal um, ein Geschenk seiner Freundin, nun schwer nach Kippen stinkend, und verabschiedete sich kurz und knapp von den anderen Übriggeblieben – bekannte, wie auch unbekannte –, während er sich, leicht schwindelnd von der verrauchten Luft, seinen ebenso wollenen Mantel überzog. Das war um kurz nach fünf Uhr in der Früh, die späte samstägliche Nacht.
    Er würde ein gutes Stück zu laufen haben, denn er befand sich im Norden der Stadt, weit hinter dem Arbeitsamt, in der Nähe des Hafens. Eine bunte sowie auch graue Gegend, viele Kulturen, viel Kunst, aber auch Missverständnisse, Verbrechen und Gewalt.
    Er würde erst zum Bahnhof gehen müssen, dort den entsprechenden Bus nehmen – vielleicht bliebe noch Zeit etwas zu Essen, das wäre gut und geplant war es ja eh – und dann würde er von der Endhaltestelle den Rest zu Fuß laufen müssen. Aber alles kein Problem. Er lief gerne, auch wenn er angetrunken war. Wenngleich es heute bitterkalt war. Und mittlerweile war er doch auch ganz schön müde, und mehr als angetrunken, oh ja. Und der Weg, der Weg war ganz schön lang.

An der Wohnungstür verabschiedete er sich noch ein allerletztes Mal in die Runde, damit ihm auch wirklich niemand auch nur das geringste Quäntchen Unhöflichkeit nachsagen konnte, und ging dann leicht wankend die Treppen hinunter. In welchem Stockwerk war er nochmal? Unwichtig. Kurz stehen bleiben, fokussieren, die Ruhe aufnehmen. Das plötzliche Bewegen hatte ihn überfordert. Er schloss die Augen, sammelte sich, und ging mit der Hand über den alten Putz an der Wand des Treppenhauses, erfühlte seine Position im Raum, in der Welt. Die Stille tat gut.
    Unten, auf der kalten Straße, begegnete ihm eine junge blonde Frau, die gerade ihr Fahrrad abschloss. Er sagte „Hi“ zu ihr. Sie sagte „Hi“ zu ihm und lächelte. Kurz überlegte er stehenzubleiben, aber sein „Hi“ war eher ein Reflex gewesen. Ein Reflex, der ihrem schönen Gesicht geschuldet war, das wusste er. Er fühlte sich zu angetrunken und zu müde, um ein anständiges Gespräch aufrechtzuerhalten, geschweige denn eines beginnen zu können. Dabei hätte das „Hi“ und der Satz mit dem Reflex und ihrem schönen Gesicht bereits gereicht, und sie hätte ihn in ihre Wohnung eingeladen, in ihr Bett. Das wusste er jedoch nicht.
    Er verließ die Straße mit der jungen Frau und mit ihr den Gedanken, sie küssen zu wollen. Die kalte steife Luft machte ihm nun deutlich, wie lange er wirklich unterwegs gewesen war. Es waren beinahe null Grad. Der Winter war da und die Kälte der Nacht hatte ganze Arbeit geleistet, hatte die Straßen leergefegt – bis auf ein paar vereinzelt Umherstreunende auf ihrem ganz eigenen Heimweg.
    Die junge Frau war bereits in ihrer Wohnung, entledigte sich ihrer Kleider, verzichtete auf die Zähneputzerei, es wird schon mal in Ordnung sein, wickelte sich in das frisch bezogene Bett und hatte es warm, während er, so dachte er, betrunken auf der Straße stehend, seinen langen Weg durch die Kälte antrat.
    Er steckte sich eine Zigarette an, zog zwei Mal, dann schmiss er sie weg. Elendige Raucherei. Das Problem mit den Zigaretten ist doch einfach, dass man sie in den seltensten Fällen genießt. Das war ihm oben, auf dem unbequemen Stuhl und vor dem überquellenden Aschenbecher, schon aufgefallen. Wenn man jede Zigarette voller Aufmerksamkeit in die Lungen ziehen würde, würde man den Quatsch ganz schnell sein lassen. Kurz überlegte er daher, die Zigarettenschachtel ebenfalls wegzuschmeißen, aber dann entschied er sich dagegen. Der Weg war noch lang.

Auf seinem Marsch zum Bahnhof hielt er sein Taschenmesser in der Hand – eng umschlossen und verdeckt in der Manteltasche. Es war keine gute Gegend und er wollte sich im Notfall verteidigen können. Er hätte niemals jemanden abstechen können, die Klinge in einen Körper rammen, oder in ein Bein, es sei denn vielleicht, es wäre absolut unabdingbar, unvermeidbar, um jemanden zu schützen, während der Apokalypse, oder um sich gegen ein paar marodierende Faschisten zur Wehr zu setzen. Das Messer bot ihm schlichtweg Sicherheit – eine kleine wehtuende Unterstützung für jemanden, der kein Kämpfer war. Zumindest im physischen Sinne.
    Das Messer war ein Andenken aus einem vergangenen Urlaub, ein schweres Klappmesser mit dickem hölzernem Griff. Ja, der Holzgriff in der geschlossenen Faust würde Jemandem, der Ärger machen wollen würde, schon vom Gegenteil überzeugen. Vor allem, wenn er ihn mit der Wucht eines Betrunkenen ins Gesicht bekäme. Das würde mehr als ausreichen. Und ja, das war wirklich keine gute Gegend, und er dachte nochmals an die junge blonde Frau, die diese Straßen offenbar allein auf dem Rad entlanggefahren war, in tiefster Nacht. Aber vielleicht hatte sie es auch nicht weit gehabt. Besser ist es jedenfalls aufzupassen. Und aufmerksam zu sein. Dann braucht man auch keine Angst vor bösen Überraschungen zu haben.

Er kam am Bahnhof an und bestellte sich bei McDonalds zwei Burger mit Pommes und ein Wasser. Es schmeckte ihm nicht, aber er aß trotzdem alles auf. Das gehört sich so. Wegschmeißen ist Verschwendung und Verschwendung gibt es mehr als genug. Ebenso wie es mehr als genug Leute gibt, die nichts zu essen haben. Also stopfte er sich den ganzen Fraß hinein, bis zum letzten Bissen, obwohl seine Rezeptoren längst gegen das gesüßte Brötchen und die Heerscharen von Geschmacksverstärkern rebellierten.
    Um ihm herum saßen betrunkene Männer und Frauen an den Tischen, die, so wie er, aus den Vierteln der Stadt zum zentralen Bahnhof geströmt waren, um nun bald, mit ein wenig synthetischer Kost im Bauch, nach Hause zu fahren, um dort direkt in ihr Bett fallen zu können. Sie redeten, faselten, lallten, stritten, diskutierten und flirteten, ein allerletzter Versuch in der bald endenden Nacht, während sich alle denselben Fraß in den Mund schoben, heruntergespült mit Cola, Fanta, oder einem Milchshake. Die Augen übernächtigt und mit hängenden Lidern, kauten sie schmatzend mit offenen Mündern ihre Brötchen und Buletten, als seien sie selbst den traurigen Kühen, die sich nun zermahlen und zerwalzt zwischen den zwei weißen Scheiben in ihren Fingern befanden, gar nicht so unähnlich.

Als er aufstand und das Tablett in den Abräumwagen stellte, fühlte er sich schlecht. Und auf dem Weg über den Bahnhofsvorplatz zur Bushaltestelle noch schlechter. Die Burger und die Fritten in seinem Magen quollen auf und gährten durch die Hinzugabe des prickelnden Wassers zu etwas allem Anschein nach Bedrohlichem vor sich hin. Er machte sich eine Zigarette an, zog einmal und furzte. Ein Befreiungsschlag. Gut, dass er sie nicht weggeschmissen hatte.
    Als der Bus einfuhr, fingerte er mit seinen kalten Fingern nach der Fahrkarte, die sich irgendwo zwischen alten Kassenzetteln, Visitenkarten und diesen kleinen Notizen versteckt hatte, die einer jahrelang in seinem Portemonnaie mit sich herumträgt, weil er sich einfach nicht von ihnen trennen kann. „Das muss schneller gehen. Rein mit ihnen“, rief der Busfahrer, so von Eile getrieben als sei er Jetpilot bei der Bundeswehr – oder einer anderen nationalen Armee.

Im Bus sitzend schlief der Mann dank aufgedrehter Heizung, duseliger Trunkenheit und vollem Magen alsbald ein – mit der einen Hand um den Messergriff, mit der anderen, für ihn im Schlaf unmerklich, seinen Bauch massierend. Das Essen, welches eigentlich keines gewesen war, sondern eher eine Kategorie, eine Stufe in einem Diagramm essbarer Dinge von giftig über verträglich bis gesund, synthetisierte in seinem Bauch zu einem harten festen Ball, einem Konglomerat gefährlicher nährstoffloser Zellen, einem Tumor, der sich nun seinen Weg vom Magen durch das Darmgekröse bahnte. Ohne es zu merken, furzte der Mann noch einmal. Aber niemand bekam es mit. Denn der Großteil der Passagiere dieser Nacht war bereits ausgestiegen. Dorthin, wo der Mann hinfuhr, an das andere Ende der Stadt, fuhren die wenigsten um diese Uhrzeit. Es war ebenfalls keine gute Gegend. Und dazu noch heruntergekommen. Und so saß er alsbald alleine dort, im vorderen Bereich des Nachtexpresses, wo das Licht immer ausgeschaltet blieb, weil die Reflektionen den Fahrer beim Fahren blenden würden.

Ein abrupter Ruck riss ihn aus seinem verdauenden Alkoholschlaf. Es war die könnende Bremsung des Fahrers, die ihm mitteilte: Raus. Endstation. Feierabend. Keine Liebe, keine freundlichen Worte. Nur die knallhart durchgetretenen Bremsen eines 400 PS-starken modernen Gelenkbusses mit Hybridmotor sowie der schwere Fuß eines Busfahrers, der die letzte Runde gefahren war, und der jetzt schleunigst zum Betriebshof wollte, um von dort aus nach Hause zu fahren, um sich in das eheliche Bett zu schleichen und seiner Frau einen Finger in die Muschi zu schieben.
    Er war wach. Ohne sich umzuschauen stieg er aus dem Bus und stand in der Dunkelheit eines im Nebel liegenden REWE-Parkplatzes. Gegenüber befanden sich Busbahnhof, Bäcker, Metzger und ein kleiner Türkenkiosk, alles verschlossen, verrammelt, ohne Licht und Menschenseele. Der Anblick seines Dorfes an einem frühen Sonntagmorgen im Winter.
    Er konzentrierte sich auf seine Wahrnehmung, versuchte wieder etwas wacher zu werden, und griff nach den Zigaretten in seiner Brusttasche. Dabei ließ er das Messer außer Acht. Hier kannte er sich aus. Er steckte sich eine in den Mund, zündete sie an und ging los. Sie bekam ihm jetzt etwas besser. Drei Schritte später schmiss er sie dennoch weg. Es war wie mit dem Alkohol oder dem Meckes-Fraß. Irgendwas war da drin, was die Leute wollten, aber auch irgendetwas, was ihnen überhaupt nicht guttat.

Er ging über den Parkplatz und gelangte in einen laternenlosen Park. Bei Tag gab es dort immer eine kleine Grünfläche mit Spielplatz und Schotterwegen. Nun jedoch lag alles in mondbeschienener Dunkelheit. Ein schwarzes unbekanntes Meer. Diffuses Licht umfloss den Nebel und die dürren zerbrechlichen Nachtwolken, die wie schlierenhafter Zigarettenqualm in der Atmosphäre waberten. Als ob man sie wegpusten könnte, wegwedeln, abwinken, zerstören.
    Er ging durch den Park und inhalierte die frische Luft. Sein Magen grummelte und pochte. Er furzte noch einmal, aber es war eh keiner da, der mithörte, oder -roch. Er ging über den Schotterweg und kam auf die kleine Straße, neben der auf einer Anhöhe parallel die Autobahn verlief. Vereinzelt hörte er den Klang eines rasenden Autos hinter dem Lärmschutzwall, eines Autos, dass diese Ecke der Stadt nur passierte, an ihr vorbeifuhr, ohne sie zu bemerken, da alles diesseits der Autobahn tiefergelegen in der Dunkelheit lag, unter ihr, und in dieser Nacht sogar noch vom Nebel bedeckt.
    Er genoss die Stille, die gesprächslose Einsamkeit, und war froh bald zuhause zu sein. Viel zu lange war er unterwegs gewesen. Er hatte einen guten Abend verlebt, aber die letzten zwei drei Stunden waren auch irgendwie überflüssig gewesen. Jetzt war er müde und die Müdigkeit zog Kälte in seine Knochen. Wie kalt war es wohl mittlerweile? Vorhin am Bahnhof, was zeigte die Uhr? 0°C? Ja, das ist schon ganz schön kalt für jemanden, dem müde ist.
    Er ging weiter, unter einem Stoppschild hindurch, und bog links unter eine Brücke, über die die Autobahn führte. Dann hielt er plötzlich inne. Er blieb stehen und starrte für einige Sekunden einfach geradeaus. Dort, direkt vor ihm, saß ein Mann. Auf dem Boden. Allein. Bei 0°C. Und bewegte sich nicht.

Der Mann saß vor einer Bushaltestelle, am äußeren Rand des einzigen Lichtes, welches von der ebenso einzigen Lichtquelle unter der Brücke kam – einer Laterne, bis zur Decke reichend und wie der Mülleimer neben ihr grau und voller Taubenscheiße. Der Mann saß dort, ohne Regung, ohne Haltung, ohne jedwede Spur von Impulsivität. Leblos. Die Beine langgestreckt auf dem kalten dreckigen Asphalt, den Kopf hängend und den Oberkörper zusammengesackt wie ein Leistungssportler. Ein Sprinter, der verloren hatte, der zu langsam gewesen war, und der sich aufgegeben hatte, der sich hinter der Ziellinie auf den Boden gesetzt hatte, um sich einzugestehen, dass es vorbei war, und der nun ganz sicher nicht mehr aufstehen würde.
    Ein Schauer durchfuhr unseren sich auf dem Heimweg befindlichen Protagonisten. Hier gab es keine Leistungssportler, nicht in dieser Gegend, nein, und wenn, dann trainierten sie auch nicht für die üblichen Disziplinen.
    Er sah den Mann von hinten, im fahlen Lichtkegel der Laterne, in einer dünnen billigen Jacke mit Plastikdaunen verpackt. Er sah den schmalen Rücken und den in der Kapuze verborgenen Kopf, zwei Körperteile, die zu ungemütlichster Zeit und Stunde reglos in der dunklen Brückenflucht saßen, die mit ihren beschmierten Wänden das Trostloseste und Verlassenste darstellte, was die menschliche Architektur hervorzubringen hatte – Zweckdienlichkeit, in der sich selbst das Licht der einzigen vorhandenen Laterne scheute, mutig zu strahlen. Wer sitzt dort so, jetzt, und überhaupt, zwischen all dem Dreck und der Vogelscheiße? Es war wie im Dreamcatcher. Die tote Frau im Parka, die in den Wäldern plötzlich im Schnee auf der Straße sitzt, und der ein tödlicher Wurm aus einer fremden Welt aus dem Arschloch kriecht.

Der Mann ging näher heran. Wie Frost von seinem Mantel versuchte er die plötzlich aufgekommene Furcht abzuschütteln. Kälte spürte er nicht mehr, Trunkenheit und Müdigkeit ebenso wenig. Er war hellwach und ging auf den reglosen Körper zu, der dort in sich zusammengezogen vor sich hinvegetierte, wie eine abgestorbene Blume, die sich getraut hatte, im frühen Frühling zu sprießen, dann jedoch von hartem Frost übermannt wurde.
    Der Mann trat näher heran, das Taschenmesser im plötzlichen Eifer des Gefechts von ihm völlig unbeachtet in seiner Manteltasche baumelnd.
    „Hey. Ist alles in Ordnung?“ fragte er, in sich selbst jedoch bereits die Gewissheit tragend, dass bei diesem Mann gerade rein gar nichts in Ordnung war. Vorsichtig blieb er auf einem Meter Abstand, stellte sich neben ihn, beobachtete, schaute was passierte, ehe sich der Kopf unter der Kapuze langsam und zitternd zu ihm drehte. Doch aus dem Mund kamen keine Worte.
    „Was ist passiert“ fragte der Daherspazierte und ging einen weiteren kleinen Schritt auf ihn zu, langsam, sich dabei immer gewahr, dass er vorsichtig sein musste. Er erinnerte sich an eine Tatort-Folge, in der ein Obdachloser über eine Straße kroch, mit seiner Darstellung von körperlicher Schwäche und Hilflosigkeit einen ahnungslosen Passanten anlockte, und diesen, als er ihm aufhelfen wollte, wie ein reudiges Schwein mit schnellen wiederholten Messerstichen in den Bauch abstach. Dann erinnerte er sich an irgendeinen anderen Fall, eine Geschichte, in der ein Junkie mit seinem HIV-infizierten Blut rumschmierte und sich auf die Lippen biss und mit seinem blutigen Speichel spuckte, wie ein tollwütiger Wolf von Sinnen durch die Straßen laufend, wie ein Zombie. Schlagzeilen und Spukgeschichten schossen durch seinen Kopf. Schlimme Welt, noch schlimmeres Fernsehen, noch schlimmere Welt. Was war zuerst da? Das Huhn? Oder das Ei?

Der Mann blieb vorsichtig, die Augen jedes Detail aufnehmend, das das schwache Licht ihnen bot: Einen zerknickten Tetrapak Weißwein an der Bushaltestelle, direkt neben dem Sitz, ein Päckchen Ja!-Blättchen auf dem Boden, und eine kleine Tasche, nein, ein Rucksack.
    Die Kälte schoss unter der dunklen Brücke hindurch, hart und ungemütlich. Das groteske Betonkonstrukt schien den Wind wie ein schwarzes Loch anzuziehen, und dem Mann, der sich nun jenseits des Ereignishorizonts befand, war klar, dass der auf dem Boden Sitzende unterkühlt sein musste. Daher wägte der plötzlich in das Leben eines anderen Mithineingezogene die Eventualitäten ab, Uhrzeit versus Kälte, Körperwärme, Polizei und Krankenwagen. Dann blickte er nochmals auf den Tetrapak.
    „Was hast du zu dir genommen?“ fragte er. Da regte sich etwas in dem Mann.
    „Keine Drogen“ sagte er mit nuschelnder Stimme, während sein langsam schwankender Kopf weiter auf den Boden gerichtet blieb.
    „Hast du getrunken?“
    „Ein bißchen.“
    „Du musst aufstehen. Du kannst hier nicht sitzen bleiben.“
Aber da sagte der Mann bereits nichts mehr.

Der andere ging ein weiteres Stück auf ihn zu – nur einige wenige Zentimeter, um seinen Standpunkt zu verdeutlichen.
    „Ich lass dich hier nicht sitzen, hörst du? Das kannst du vergessen?“ Hin und her gerissen zwischen Vorsicht und dem tiefen inneren Wunsch dem Mann zu helfen, verharrte der Dahergelaufene für einige Sekunden in seiner Position und überlegte, ob er den anderen anfassen und ihm aufhelfen sollte, oder ob das vielleicht zu weit gehen würde, ob er sich dann angegriffen fühlen würde. Doch da regte sich der Mann bereits wieder von allein. Er drehte sich unbeholfen auf die Seite, so dass er auf dem Bauch lag, und brachte sich, über den kalten dreckigen Bordstein rutschend, auf alle Viere, auf Knie und Hände, bibbernd, zitternd, ehe er versuchte, sich mit seinen kaltgefrorenen steifen Gliedern aufzurichten. Die stockenden Bewegungen erinnerten an die eines vor dem Tod längst überfälligen Greises.
    Der andere wollte ihm helfen, ihm unter die Arme greifen, aber ein dicker blutiger Sabberfaden, zäh wie klebriges Gelee, ließ ihn innehalten. Er tropfte von der kaputten Unterlippe des Mannes, dessen Gesicht sich nun behäbig, wie in Zeitlupe, in den fahlen gelben Lichtkegel gedreht hatte. Die Lippen waren blau und eingerissen, das Gesicht müde und alt, die Augen ins Leere blickend, dunkel, schwarz, verlassen und allein. Ein kalter Schauder krabbelte dem anderen vom Nacken an die Wirbel hinab.

„Was ist passiert?“ fragte er, obwohl er bereits erkannt hatte, dass das alles nicht nach einer Schlägerei oder einem Überfall aussah. Sein Blick wanderte, suchte, und fand dennoch einen dicken roten Flatschen geronnenen Blutes, schaumig und mit Spucke versehen, der vor einem der Stühle an der Bushaltestelle vor sich hin gefror, unweit vom Tetrapak entfernt.
    „Hast du dir auf die Lippen gebissen?“ fragte er, gefolgt von kurzer Stille.
    „…auf die Lippen gebissen“, wiederholte der andere den Satz, nickend, dabei im Bärenstand stehend und gefährlich taumelnd wie ein wackeliges Kartenhaus, das über die zwei Karten niemals hinauskommen würde.
    Der andere stand daneben und sah zu. Er wollte ihm helfen, aber er konnte nicht so recht. Er konnte dem Mann nicht die Hand reichen, die mit dem Blut verschmierte, angegeiferte und aufgeplatzte. Er wollte ihn nicht anfassen. Aber er wollte ihn auch um nichts in der Welt allein lassen. Er wollte, dass er ins Warme kam. Mensch, ich wohne überhaupt nicht weit weg von hier, sagte er sich. Dort könntest du ausnüchtern, dich baden, waschen, ein paar gebratene Eier essen, einen heißen Kaffee trinken. Aber nein, sagte er sofort darauf zu seiner inneren Stimme, das geht so nicht. Denn noch während er nachdachte, voller Zweifel die gegebenen Möglichkeiten gegeneinander abwog, fing der andere Mann an, taumelnd und mit durchgestreckten Beinen stehend, etwas auf dem Boden zu suchen. Einem Schwarm Schnaken gleich, die, so scheint es häufig, suchend eine Wand entlangirren, tasteten sich seine unterkühlten Finger durch den dunklen Dreck auf dem mit Taubenscheiße zugeschissenen Bürgersteig.
    „Hey Mann, was suchst du?“ fragte der andere. „Sag mir, was du suchst.“ Aber die Finger irrten weiter sprachlos über den Asphalt als würde er eine Geschichte in Braille erzählen.
   „Suchst du deine Blättchen? Ist es das? Ja? Die sind da drüben.“
Der Mann hörte auf über den Boden zu nesteln und richtete sich auf wie ein Zombie, der Fleisch gerochen hatte. Er machte einen Schritt vor, dann einen zurück, dann wieder einen vor, das Gleichgewicht war ihm fremd in diesem Moment, und dann griff er, beinahe im Fallen, nach dem Oberarm des anderen, welcher nur kurz zuckte, den Arm aber nicht wegzog, und hielt sich fest, richtete sich auf, während die dreckige Hand sich in die Wolle krallte, und dabei wirkte es, als ob er genau diese eine Barriere nicht durchbrechen wollte, die der andere, ohne dass er es wusste, zeigte, diese magische Grenze der Distanz, die er besaß, die jeder besitzt, diese eine Grenze, die es nicht zu überschreiten gilt, weil sonst alles Vertrauen für immer verloren ist.
    Doch der Mann behielt die Fassung. Und der andere ebenfalls. Und so standen sie dort an diesem Morgen, in der klirrenden Kälte, im steifen Wind, der durch den Tunnel zog. Der eine hielt sich an dem anderen fest, stand zum ersten Mal seit Stunden, und der andere ließ ihn gewähren, war seine Stütze, denn er war froh, dass der Mann lebte.
    „Wo wohnst du“ fragte er ihn.
    „Ich kann nicht nach Hause.“
    „Warum nicht?“
    „Ich kann nicht nach Hause.“
    „Ich lass dich nicht hier in der Kälte.“
Stille.

Der Mann ließ los und taumelte einen Schritt zurück. Der andere ging schützend auf ihn zu, aber da fing der Betrunkene sich wieder, krallte sich an der mit schwarzem Stift beschmierten Wand der Bushaltestelle fest, im Becken zuckelnd wie bei einem Krampfanfall, wenngleich es die Kälte war, die den Mann bis ins Mark durchdrungen hatte und die Schuld an den asymmetrischen Konvulsionen trug.
    „Nimms mir nicht übel, okay, aber ich hole jetzt Hilfe“, sagte der andere. „Die bringen dich dann ins Warme. Dort kannst du dich ausschlafen, dir ein paar Tabletten gegen die Kopfschmerzen geben lassen, und am Morgen kriegst du ein anständiges Frühstück mit einer heißen Tasse Kaffee. Bleib hier stehen.“
    Der Mann in dem Mantel ging einige Meter weg und rief die Polizei. Ein Krankenwagen schien ihm nicht das Richtige, zumindest nicht ohne Beisein eines Polizisten. Rettungssanitäter waren, nun, waren eben Rettungssanitäter. Ganz brauchbar, wenn man sich einen Arm abgesägt hatte, oder einem eine Arterie im Kopf geplatzt war, aber im Umgang mit Betrunkenen waren sie so sehr Profis, wie ein notorischer Lügner ehrlich war. Das wusste er, da kannte er sich aus.
    Während er den Notruf wählte, sah der Mann die Silhouette des Betrunkenen wie einen schwarzen animierten Scherenschnitt unter der Brücke taumeln. Sein weißer Atem quoll nur noch schwach aus seinem Mund. Zu lange war er bereits draußen.
    „Polizeinotruf, 110, guten Abend, was kann ich für Sie tun.“ Die Stimme klang sehr jung, klang nach Ausbildung.
    „Guten Morgen. Ich habe hier an der Kreuzung Ecke Martinstraße einen Mann vorgefunden, stark betrunken, unterkühlt, aber ansprechbar.“
    „Wo genau sind sie? Das habe ich nicht ganz verstanden“, fragte die junge Stimme nach.
    „An der Kreuzung Ecke Martinstraße, Bochum, da ist eine Unterführung unter der Autobahn.“
    „Ich schaue nach … … … … alles klar. Ich schicke ihnen einen Wagen vorbei. Einen Krankenwagen schicke ich ebenfalls. Bleiben sie bitte vor Ort.“
    „Sicher. Vielen Dank.“

Der Mann ging zurück unter die Brücke, zu dem anderen, der sich wieder nach vorne gebeugt hatte und mit den Fingern über das Relief im Asphalt tastete, in der Dunkelheit, wo andere hinspuckten, pissten, ihr Essen sofort liegen ließen, wenn es hinfiel.
    „Lass das“, sagte er, der vor fünfzehn Minuten selbst noch betrunken im Bus geschlafen hatte. „Da ist nichts.“ Er sprach beruhigend, wie man zu einem Kind sprach, dessen imaginäre Geister man erfolgreich zu vertreiben hoffte.
    „Da ist nichts“, sagte er noch einmal und zum ersten Mal berührte er den Mann von sich aus, an der Schulter, ruhig und sanft, und gab ihm einen Impuls, damit er davon abließ.
    „Ich habe die Polizei angerufen“, sagte er. „Die kommen mit einem Krankenwagen. Und dann kommst du ins Warme. Du brauchst dir keine Sorgen machen. Ich bleib solange hier.“
Wieder kehrte Stille ein. Für Minuten standen die beiden dort. Zwei Welten, irgendwo in Ähnlichkeit vereint, irgendwo im Anderssein getrennt. Sie standen dort und die Minuten verstrichen, der eine taumelnd, der andere wachend. Dann fragte der Taumelnde:
    „Wo bleiben die denn?“, was den anderen beruhigte, da er nun wusste, dass er nicht nur sein eigenes Gewissen befriedigt, sondern auch dem Betrunkenen in dessen eigenen Augen etwas Gutes getan hatte. Denn nichts war schlimmer auf der Welt, als jemanden gegen seinen Willen irgendwo hinzuschicken, wo er nicht hin wollte.
    „Die sind gleich da“, sagte er. „Die sind gleich da.“ Und wie mit dem Stichwort herbeibeschworen, sah er das An- und Abschwellen des blauen Lichts an einer entfernten Hausfassade. Der Aufmarsch der Machtinstitutionen, der Kontrolle, der Fragen, des Blankziehens, aber auch, und das vor allem in diesem Fall, der Hilfe und der Unterstützung.

Der Betrunkene fing an sich zu bewegen, wurde unruhig, agitierte.
    „Bleib ganz ruhig, alles gut“, besänftigte ihn der andere. „Ich regel das. Ich erzähle denen alles. Du ruhst dich einfach nur eine Nacht aus, okay? Und wärmst dich wieder auf.“
    „Okay“, sagte der andere, undeutlich aber erkennbar, und nickte ein schwaches Nicken, mit gebeugtem Kopf, als ob er eine Schuld zugeben würde, als Form der Dankbarkeit.
    „Alles gut“, sagte der andere. „Alles gut.“

Und dann hielt der Rettungswagen, zeitgleich mit der Polizeistreife. Innerhalb von Sekunden verwandelte sich die dunkle Szene unter der Brücke in eine bunt leuchtende Kirmes mit sich bewegenden Lichtern und bunten Farben, und sogar einem Clown, der sich anschickte, aufzutreten.
    „Ja was haben wir denn da Feines?“ stieg ein großer blonder Rettungssanitäter sprechend von dem Tritt des Beifahrerplatzes auf die Straße. Der Mann in dem Mantel analysierte, sah das dumme grobgemeißelte Gesicht, und reagierte, übernahm die Kontrolle, wie er es versprochen hatte, und machte dem zweiten, dem jüngeren Sanitäter, eine Übergabe, sodass dem ersten keine Zeit mehr blieb, sich ein eigenes Bild zu machen.
    Dann kamen die beiden Polizistinnen auf den Mann zu, freundlich zugewandt, lächelnd, und fragten ihn, was passiert sei. Ihnen erzählte er dieselbe Geschichte. Dass er hier vorbeigekommen sei, auf dem Weg nach Hause, und dann den Mann schwer unterkühlt und intoxikiert vorgefunden habe. Dass der Mann sich artikulieren konnte, wenn auch schwer, dass er nicht nach Hause wollte, weil er dort nicht hinkönnte, warum auch immer, aber dass er kooperativ sei. Dass er es für das Beste hielt, wenn der Mann ins Warme käme und sich jemand um ihn kümmere.

Und während er ihnen die Geschichte erzählte, brachten die beiden Sanitäter den Mann ruhigen Schrittes in Richtung Krankenwagen. Auf dem Tritt sank der Betrunkene in die Knie, Körper und Verstand versagten, aber das war gut, das zeigte den Anwesenden, dass es ihm nicht gut ging. Die Sanis holten schließlich die Trage, mobilisierten den Mann darauf, und fuhren ihn in den Rettungswagen. Dann sahen die Polizistinnen das Blut, als sie die Tasche des Mannes und sein Portemonnaie auf der Suche nach einem Ausweis durchsuchten.
    „Blut?“
    „Ja. Er sagte, er habe sich auf die Lippen gebissen. Keine Schlägerei oder so.“
Eine der Polizistinnen, die größere, nickte als ob das gute Nachrichten waren. Waren sie auch.
Dann hörte der Dahergelaufene ein Rappeln auf der Liege und einen klirrenden Gurt. Er hörte, wie der Mann im Rettungswagen unruhig wurde und ging an die offene Rückseite.
    „Alles gut“, sagte er, „alles gut. Ich habe ihnen alles gesagt. Und deine Sachen sind auch hier“, sagte er. „Die kommen mit dir mit. Du brauchst dir keine Sorgen machen.“ Prompt beruhigte sich der Mann wieder, schloss die Augen und es schien als ob er in einen tiefen ruhigen Schlaf fiel.

„Werner Sieger“, sagte die Polizistin und gab den Namen über Funk durch. „1978 geboren. August, 28ster.“
   1978. Der Mann im Mantel überschlug das Datum. Nur acht Jahre älter als ich. Nur acht Jahre älter. Und er sah aus als sei er ein Greis.
    „Wir haben soweit alles“, sagte die Polizistin. „Gut, dass sie angerufen haben.“ Die Sanitäter schlossen die Tür vom Rettungswagen, stiegen ein und fuhren mit stillem Blaulicht in die Richtung eines Krankenhauses. Die Polizistinnen stiegen ebenfalls ein und fuhren ohne Blaulicht in die entgegengesetzte Richtung. Der ganze Auftritt hatte keine fünf Minuten gedauert.

Der Mann mit dem Wollmantel blieb allein unter der nun wieder dunklen Brücke zurück und dachte nach. Das Erlebte der letzten halben Stunde schoss durch seinen übermüdeten Kopf wie ein rappelnder Zug, der sich mit aller Gewalt bemerkbar machen wollte. 78 geboren. 41 Jahre alt. Nur 41 Jahre alt.
    Der Mann fing an, sich an die letzten Meter seines Heimwegs zu machen, doch bereits nach dem ersten Schritt hielt er inne und begann zu weinen. Ja, er war wirklich kein Kämpfer. Wie ein Sturzbach, wie das Wasser eines gebrochenen Damms schossen die Tränen aus seinen Augen und er fragte sich: Wie kann das sein? Wie verdammt nochmal kann so etwas sein?
    Der Alkohol und die Emotionen. Es dauerte Minuten bis er sich beruhigte. Kein Auto fuhr an ihm vorbei in dieser Zeit, kein Fußgänger passierte ihn. Nur über ihm, auf der Autobahn, raste alle paar Sekunden ein Fahrzeug hinweg, eilig und hastend, unwissend darüber, was beinahe unter ihm passiert wäre. Wie kann so etwas passieren, fragte sich der Mann. Und während er sich mit dem einen Ärmel die Tränen aus dem Gesicht wischte, fühlte er mit der anderen Hand das Messer in seiner Tasche. Und begann zu lächeln. Nicht eine Sekunde hatte er daran gedacht. Nicht eine Sekunde. Alles nur Geschichten, sagte er leise. Alles nur Geschichten. Nichts war passiert. Rein gar nichts. Außer, dass jemand anders es jetzt warm hatte. Und dass dieser am Morgen ein Frühstück und einen heißen Kaffee bekommen würde. Vielleicht ein schöner Tag für ihn. Vielleicht ein schöner Tag für ihn. Und ja, er war wirklich kein Kämpfer.
Und das war auch gut so.

Der Kötel

Eine Kurzgeschichte mit dem Namen: Der Kötel. Das Bild zeigt einen Fernseher und einen Autoreifen, dahinvegetierend im Gebüsch.

Eine Kurzgeschichte über die Konfrontation mit einer liebenswürdigen Mitbürgerin – und dem Exkrement ihres Hundes … 

Lesedauer: 10 – 15 Min.


Der Kötel war nicht größer als eine Haselnuss. Und so wie der kleine Yorkshire Terrier gepresst hatte auch nicht wesentlich unhärter. Ich ging gerade ­­– unter noch dunkelblauem, frühmorgendlichem Himmel – die Straße zur Bahn hinunter, als ich den kleinen grauhaarigen Stinker sah, wie er seinen Gutenmorgendiamanten zitternd durch die dreckigen Arschhaare presste. Sein dickes Frauchen hielt fein kontrollierend die Leine, und kramte bereits raschelnd in der schwarzen Kunstlederhandtasche nach dem Kackebeutel, um das morgendliche Stuhlensemble, das nicht mehr als ein kleiner Nugget war, auf nachhaltige Art und Weise entsorgen zu können.

Bis wir jedoch zum Kern der Geschichte kommen – meine Einmischung in die wahrhaft umweltschonende Hundefäkalien-Entsorgungsmaßnahme dieser dicken Frau – kugelte der kleine Kötel erstmal frisch gepresst einige Zentimeter auf dem Asphalt hin und her – was vielleicht auch ein frühmorgendliches Trugbild meiner Sinne hätte sein können – und blieb dann, beinahe unentdeckt, getarnt zwischen braunen Blättern, Buchecken und anderen Baum- und Zivilisationsresten liegen. Unscheinbar.

Der kleine Terrier, dem die Haare hipp, aber auch dümmlich naiv vor den Augen hingen, hörte sofort nach Beendigung seines morgendlichen Defäkations-Vorgangs mit dem Zittern auf und widmete sich wieder erleichtert und schwanzschüttelnd dem Aufschnüffeln von weiblichen Pissefährten. Viel mehr kann so ein überzüchteter Sofahund ja eigentlich auch nicht. Und auch wenn er süß ist: Richtig scheissen kann er eigentlich auch nicht. Trotzdem hielt sein Frauchen plötzlich einen Plastikbeutel in der Hand, mit dem ein Überlebender in jeder erdenklichen apokalyptischen Situation ein Notsignal zum Rettungshubschrauber hätte geben können. Leuchtendes Violett, und groß wie ein Mumien-Schlafsack für Erwachsene. Wollte sie den kleinen haselnussgroßen Knicker wirklich in diesen Riesenbeutel verfrachten? Das fragte ich mich, als sich ihr dicker Körper schwerfällig bückend nach dem Kötel streckte – den Arm bis zur Schulter in dem riesigen, mit kleinen Knochenornamenten bedruckten Plastiksack verborgen.

„Sagen sie mal, für den kleinen Knicker brauchen sie doch wirklich keinen Beutel, oder?“ sprach ich sie an. Der Beutel raschelte wie ein gigantischer Lenkdrachen an der stürmischen Nordsee, als sie sich mir hockend, aber leicht unbeholfen, mit den Unterarmen auf ihren dicken Beinen abstützend, zuwandte.
„Na doch. Ich möchte ja auch nicht in so etwas hineintreten“, sagte sie, während ihre Leggings ein gefährliches Knatschen von sich gab, von irgendwo zwischen ihren Schenkeln her.

Ein sozialer und ehrenwerter Gedanke, sagte ich zu mir selbst, mit Blick auf meine neuen Sneaker. Und da ich mir nur alle fünf Jahre mal ein neues Paar gönnte eigentlich von Vorteil für mich. Aber als mein Blick auf den Boden fiel, konnte ich den Kötel beileibe nicht mehr ausmachen. Er hatte sich versteckt. Wie lustig wäre es, dachte ich, wenn sie wirklich eine Haselnuss einpacken würde. Oder eine Buchecker. Aber so weit sollte es natürlich nicht kommen.

„Wissen sie“, sagte ich, „mal abgesehen davon, dass ich den Kackekiesel ohnehin nicht mehr erkennen kann – zwischen all dem Morast hier – finden sie denn nicht auch, dass die Tüte ein wenig groß ist für so einen kleinen Kötel wie den von ihrem Schmusehund?“
Die Frau schaute mich an. Und überlegte dann sichtlich, mit starrem Blick in den morgendlichen Himmel. Dabei taumelte sie leicht, immer noch hockend, auf den Zehenspitzen umher ­– gefährlich wankend, wie eine Boje auf stürmischer See.
„Ich mein, mit dem Beutel da können sie ja ein Segelboot bespannen“ sagte ich, und konnte nicht anders, als ihr in meiner morgendlichen Überheblichkeit ein Lächeln zuzuwerfen. Ein Lächeln, das sie nicht erwiderte.
„Das ist kein Schmusehund“, sagte sie stattdessen. Und wandte sich wieder ab. Sichtlich genervt.

Ich hätte es wissen müssen, dachte ich. Die Frau war ein Mensch, der sich nichts sagen ließ. Und ein Mensch, der Regeln befolgte – auf akkurateste Art und Weise. Zudem schwante mir, dass diese Frau diesen gewissen Charakterzug besaß, den manche Menschen an den Tag legen, wenn sie sich eigentlich mit Gleichgesinnten sympathisieren wollten. Solche Menschen, die Sachen sagen wie: „Diese Türken da drüben, diese Nachbarn, die immer diese komische Musik so laut ­haben – bis spät in die Nacht – schlimm sind die“, und die dann im Dialog eigentlich Dinge hören wollen wie: „Ja, wirklich schlimm wie laut diese Türken sind. Unsereiner würde nie so über die Stränge schlagen.“ Wenn einer selbst dann aber eine andere Meinung hat, multikulti gut findet und so, werden sie plötzlich feindselig. Ja, es sind immer die anderen. Und eine Regel ist eine Regel – egal wie dumm sie in manchen Momenten erscheinen mag. Hinterfragen? No Way. Scheiße verdammt, und dann stand auch noch Leitwolf auf dem kleinen Hundeleinen-Geschirr, umzeichnet von den Farben der deutschen Flagge. Ich hatte ja sowas von Recht.

Die Frau in der auf Hochspannung gestretchten Leggings dachte offenbar tatsächlich, dass sie, nur weil auf dem Kackebeutel von der Größe eines Seesacks ein grüner Punkt drauf war, etwas Gutes tut. Aber in dem Moment, als ich fast begann sauer zu werden, erkannte ich Gott sei Dank den Kötel wieder. Den Kötel, der stellvertretend für viele andere kleine Kötel stand, die wiederum stellvertretend für eine riesige Unmenge an Plastikmüll standen, die mir einfach sinnlos erschien. Schließlich muss so ein Frauchen seinen kleinen Köter ja auch nicht direkt auf dem Bordstein scheissen lassen, oder?
Und während dieser Brummer von Hundefanatikerin, immer noch hockend, so als würde sie gleich selbst scheißen, oh Gott bewahre, nach dem Schiss ihres Hundes suchte, begann ich in Gedanken abzuschweifen …

… denn eigentlich hätte sie mit dem Beutel gleich ein kleines Lebewesen ersticken können, dachte ich. Den bissigen kleinen Kampfköter von dem Fascho unten am Ende der Straße zum Beispiel. Dann wäre der Beutel wenigstens voll gewesen. So jedoch wird er irgendwann mit ganz viel wohligem Platz in seinem Innern durch die Ozeane dümpeln. Er wird einer kleinen putzigen Meeresschildkröte mit kleinen putzigen Kulleraugen begegnen, die dann nichtsahnend in diesen violetten Puffbeutel schwimmen wird. Oh, da sind aber viele kleine süße Knochen drauf. Da drin gibt es bestimmt viele tolle Snacks. Ja, das wird sie sich sagen, nachdem sie mutig ihr kleines Köpfchen aus dem schützenden Panzer gereckt hat. Durch die Knochensymbolik hinterhältig in die Todesfalle gelockt findet sie jedoch nur – als lächerliche Imitation einer Haselnuss getarnt – den morgendlichen Kötel eines Yorkshire Terriers aus Grevenbroich. All das, kurz bevor sich der violette Vorhang des Schildkrötenlebens für immer schließen und das kleine Tier langsam in der Dunkelheit des Ozeans bedecken wird, als sein immer fortwährendes Grevenbroicher Grabtuch aus unverwüstlichem Polyethylen.

Das durfte ich nicht zulassen!

„Sagen Sie …“, sprach ich die adrette Dame wieder an. „Was wäre denn, wenn sie den Hund einfach da, zwei drei Meter weiter, an diesem Gebüsch kacken ließen? Da zwischen Fernseher und Autoreifen. Das wäre doch gar nicht so umständlich, oder? Wäre doch cool, wenn sie so auf diesen Beutel verzichten könnten. Gibt ja schon genug Leute, denen es anscheinend scheißegal ist, was mit dem ganzen Müll passiert.“ Dabei zeigte ich auf die alte Röhrenglotze im Gebüsch. Doch die Frau schaute mich nur ungläubig mit offenstehendem Mund an.
„Sagen sie, was haben sie eigentlich für ein Problem?“ sagte sie, immer noch auf ihren Stempeln über dem Boden hockend, offenbar unfähig, den verlorenen gegangenen Hundeschiss wiederzuentdecken.
„Ja gar keins, ich finde es einfach nur nicht sinnvoll, was sie da tun. So einen Plastiksack für so einen …“
„Für so einen was?“ unterbrach sie mich. „Wissen sie eigentlich was es kostet, wenn das Ordnungsamt mich dabei erwischt, wie ich Hundekacke auf dem Bürgersteig liegen lasse?“
Ich sah ihr tief in die Augen. Da lag ein Autoreifen nebst Fernseher im Gebüsch und sie machte sich tatsächlich Sorgen um den Schiss von diesem kleinwüchsigen Köter. Und nein, natürlich wusste ich nicht was das kostet.

„Ich bitte sie“, sagte ich, „DAS – ist keine Hundekacke. Das ist, … ganz ehrlich, ich weiß nicht was das ist, aber …“  und in dem Moment bekam ich einen Einblick in ihre Handtasche:
Abermillionen von Hundekackebeuteln in unzähligen Farben taten sich dort vor mir auf. Manche der Beutel waren bedruckt mit Knochen, andere mit Herzchen und wiederum andere mit kleinen Hundewelpen. Und da wurde mir klar: Die Dame war, wie die Hexe mit ihrem Lebkuchenhaus in Gebrüder Grimms Hänsel und Gretel, eine Verführerin des Bösen.

„Meine Fresse. Sie schleppen da ja die reinste Zeltlandschaft mit sich rum. Da könnten tausend Dinosaurier reinscheissen“, sagte ich und musste komischerweise dabei lachen – vermutlich aus Hoffnungslosigkeit, oder aber, weil der mit den Dinosauriern echt gut war.
„Also von ihnen muss ich mir nun wirklich nichts erzählen lassen“, erwiderte sie. „Und schon gar nicht, wie ich den Kot meines Hundes zu entsorgen habe“. Dann wandte sie sich ab, sichtlich angefressen.
„Naja, sagte ich. „Sie könnten doch auch einfach, in Anbetracht der Größe dieses Kackoramas, einen Stock oder so nehmen, und den Kniggel da die paar Zentimeter rüber zum Busch purzeln. Oder ihn, hart wie er offenbar ist, mit dem Turnschuh rüberkicken.“
Dabei deutete ich an, ihn soft wegzuschießen.
„Würd‘ keiner merken.“
Sie schaute mich an. Entsetzen lag in ihrem Blick.
„Mit den Schuhen?“
„Ja, mit den Schuhen“, sagte ich. Und ich kickte nochmal lässig zur Demonstration mit dem rechten Bein.

„Sie sind doch ekelhaft.“
„Wieso ekelhaft?“
„Ja ganz einfach, … WEIL SIE EKELHAFT SIND. PUNKT.“
Und sie wand sich abermals ab. Es war hoffnungslos.

Ekelhaft, sagte sie. Dabei sind Hundeliebhaber doch die Schlimmsten von allen. Sitzen auf der Couch und kraulen ihren Kötern alle nur erdenklichen Stellen. Einige drücken ihren Hunden sogar auf der Analdrüse rum, wenn die da so eine Sekretverstopfung haben. Abartiger Scheiß. Aber den Hund dann noch nicht mal am Bein rammeln lassen. Ja ja, solche habe ich gern. Ich musste was tun. Und fing an, mit meinen Schuhen den Boden zu fegen …

„Ey, was tun sie da?“ fragte sie.
„Nichts, ich mach den Boden sauber“, sagte ich und fegte weiter. Schuhgröße 46 war ideal dafür.
„Lassen sie das“, sagte sie und versuchte, mich mit der kackebeutellosen Hand zur Ordnung zu rufen.
„Nichts da“, sagte ich. Und gab nicht auf.
Sie hatte keine Chance. Ich schob den ganzen Kladderadatsch an den Rand des Bürgersteigs, welcher hier, schräg unter der Autobahnunterführung, immer mehr zur Müllhalde verkam.
„Sehen sie, das sieht kein Mensch“, sagte ich. Doch sie blickte mich nur vollkommen entgeistert an.

„Sie sind verrückt“ sagte sie, und stemmte ihre dicken Ellenbogen auf ihre noch dickeren Oberschenkel, während sie versuchte, sich aus den Knien nach oben zudrücken. Doch es ging nicht. Sie war schon zu lange in der Hocke. Sie verlor das Gleichgewicht, und auf halber Höhe fiel sie nach hinten über. Ich wollte noch nach ihr greifen und sie auffangen, aber dabei wären mir vermutlich alle Bänder im Körper gerissen. Daher ließ ich sie fallen, so wie man als Holzfäller einen Baum fallen lässt. Es war ja keine große Höhe – und ihre Polsterung war gut. Dann hörte ich eine Art Pftssch, als sie mit ihrem pinken Windbreaker auf dem Rücken landete. Und ich ahnte das Schlimmste …

Auf dem Rückend liegend, zog sie plötzlich angewidert ihre Mundwinkel nach unten, und versuchte, nun selbst wie eine Schildkröte, die unglücklich auf dem Rücken gelandet war, wieder auf alle Viere zu kommen. Und als sie sich, von mir wegdrehend, auf die Knie begab, sah ich, was das matschige Geräusch ausgelöst hatte. Sie war in Scheiße gefallen. Frische, weiche Hundescheiße, die sich von uns unbemerkt im Schatten der Bushaltestelle befand. Und was für ein Schiss das war. Gigantoman. Und vermutlich sogar noch warm.

„Oh, wo kommt denn das jetzt plötzlich her?“ sagte ich, überrascht wie ich war.„Siiieeee, … „, sagte sie. „SIEEEEEEEE …“, doch es war bereits zu spät. Bevor sie richtig sauer werden konnte, fing sie bereits an sich zu ekeln und versuchte den dicken, offenbar wirklich noch warmen Schiss von ihrem Rücken fernzuhalten, indem sie ein Hohlkreuz machte und die Schultern nach hinten zog. Ihr kleiner Terrier sprang sie dabei an, kleffte freudig erregt umher, wollte an ihr riechen, bzw. an der frischen Scheiße.

„Sehen sie, dafür sind diese Beutel eigentlich gedacht“, sagte ich. „Hätten sie lieber diesen Schiss hier weggemacht.“ Und ich nickte zu ihrem rechten Arm, der immer noch bis zur Schulter in der mit kleinen Knochen gesprenkelten violetten Kacketüte steckte.
„Wenngleich man den natürlich auch – aus rein nachhaltiger Sicht – mit einem Papierbeutel oder einer Schüppe hätte …“ doch ihr Blick sagte mir, dass sie mich töten würde, wenn ich diesen Satz zu Ende aussprechen würde. Also hob ich entwaffnend die Hände. Immerhin war sie die, die in Scheiße gefallen war.„Die Reinigungskosten, die gehen auf ihre Kappe“, sagte sie, während sie schnaufend aufstand.
„Wieso denn das?“ fragte ich. „Sie sind doch umgekippt.“
„Weil sie, weil sie, … „, doch dann kam nichts mehr.

Sie wich von mir ab und ging – ihren fröhlich schwanzwedelnden Hund hinter sich herziehend – die Straße hoch. Mit einem gigantischen Scheißefleck auf dem Rücken. Doch ich war es, der als Verlierer aus der Sache herausging. Denn den Beutel streifte sie auf halber Höhe der Straße ab. Und stopfte ihn – unbenutzt wie er war – in einen blechernen Stadtmülleimer. Alles fürn Arsch, dachte ich. Doch leider nicht mal das.

Zeuge einer Flucht

Eine Kurzgeschichte mit dem Namen: Zeuge einer Flucht. Das Bild zeigt ein Fahrrad, angelehnt an einer Friedhofswand.

Eine Kurzgeschichte über ein Verbrechen. Und über einen Unschuldigen, der sich selbst für einen Täter hält …

Lesedauer: 8 – 10 Min.


Karl hatte die Frau gestern schon gesehen, am frühen, noch sonnigen Abend, als sie in demselben Zug war wie er. Sie stand an der Tür – und er schaute sie von seinem Sitz aus an. Sein Blick ging vorbei an den anderen, von der Wärme gebeutelten Fahrgästen, die mit müden Lidern durch die staubigen S-Bahn-Fenster blickten. Und für einen kleinen Moment, als er selbst kurz aus dem Fenster geschaut hatte, kam es ihm so vor, als hätte sie ihn beobachtet. So als würde sie ihn erkennen. Dann hatte sie sich jedoch schnell wieder weggedreht. Und Karl war sich nicht mehr ganz sicher, ob ihr Blick überhaupt ihm gegolten hatte. Hatte er?

Er hatte überlegt zu ihr hinzugehen, schließlich kannten sie sich aus einem dieser Schriftsteller-Kurse an der Universität. Sie hatte sogar an einem Tag des Seminars neben ihm gesessen, erzählte, sie mache irgendwas mit Tanz oder Kampfsport oder so. Ganz sicher war sich Karl dabei aber ebenfalls nicht. So viele Frauen in der Zeit des Studiums. Was er aber wusste, war, dass sie es war, die neben ihm gesessen hatte. Und er wusste auch, dass sie sich an ihn erinnern musste. Immerhin unterhielten sie sich über das Schreiben und irgendwie hatte er auch das lächelnde Profil ihres mädchenhaften Gesichtes in Erinnerung, wie sie neben ihm sitzt und ihm einen zugewandten Blick zuwirft, mit ihrem Lächeln und ihren feinen Wangengrübchen, die sich hinter den dunklen Strähnen ihres langen Haars verbergen. Und welche er auch jetzt im Zug wiedererkannte, auf ihrer sonnengebräunten Haut.

Erinnert sie sich nicht an mich? Scheiße, was wenn nicht? Das waren Karls Gedankenzüge gewesen. Und die waren eindeutig. Denn wenn sie ihn bemerkt hatte, wie er sie im Zug anstierte, dann würde er schon in Erinnerung bleiben, oh ja. Und zwar als jemand, der in seinen Mittdreißigern schöne junge Frauen mit langen dunklen Haaren in Zügen angafft, bis sie letztendlich angewidert oder verängstigt an der nächsten Haltestelle die Flucht ergreifen. Und wer weiß, vielleicht würde sie ihn sich sogar vorstellen, wie er sich dann zu Hause heimlich einen runterholt. Ja, so richtig mit Spucke, flatsch flatsch flatsch. Genau an sowas dachte Karl dann. Aber diese Gedanken gefielen ihm nicht. Nein, sie gefielen ihm überhaupt nicht. Und wenn die Frau, von der er nicht mal sicher sagen konnte, dass sie ihn angeschaut hatte, gewusst hätte, dass er auf dem Weg zu seiner Freundin war, gestern, als er im Zug saß und sie aufgeregt angaffte, in der Hoffnung, dass sie ihn erkennen würde, dann wären ihr solche Gedanken bestimmt nicht gekommen. Nein, ganz bestimmt nicht. Aber für so viel Smalltalk war einfach keine Zeit gewesen. Die S-Bahn-Tür war an der erstbesten Haltestelle mit einem pneumatischen Zischen auf – und direkt wieder zugegangen. Sie hat mich doch ganz bestimmt gesehen, oder? Karl hatte sich im anfahrenden Zug noch mal umgedreht – doch sie verschwand direkt hinter einigen Büschen auf einem hinabführenden Weg an der Haltestelle. Und dann war sie weg. Nicht mal für ein „Hallo“ war Zeit gewesen. Oder ein „Lange nicht gesehen.“ Scheiße, nicht mal ein dämliches Winken war drin.

Umso passender war die Chance, die sich ihm bot, als ihm die Frau, an dessen Name er sich bei aller Anstrengung nicht erinnern konnte, wieder begegnete. Heute, an einem sonnigen, brütend heißen Großstadttag. Ja, er konnte seinen eventuellen Perversen-Eindruck wieder abschütteln. Und auch die Erinnerung, die dieser in seinen Gedanken hinterlassen hatte. Denn vielleicht hatte sie ihn einfach nicht erkannt, ja sogar nicht mal bemerkt, und alles war nur in seinem Kopf. Aber das konnte nur sie beantworten. Und genau sie war es, die gerade um die Kurve an der Kreuzung Lindemann- und Langestraße kam. Und sie fuhr direkt auf Karl zu. In der Sommerhitze des Freitagnachmittags fuhr sie mit ihrem silbernen Damenrad fast auf der Mittellinie und strampelte kräftig, wenn auch sitzend, in die Pedale. Es lagen hundert, vielleicht hundertfünfzig Meter zwischen ihnen, aber er erkannte sie bereits als sie um die Kurve fuhr. Er musste ja auch die ganze Nacht an die peinliche Situation des Vortags denken. Umso mehr – so dachte er sich – müsste sie sich doch auch an mich erinnern, oder? Wenn ich sie doch schon auf so weite Distanz zu erkennen vermag.

Na komm schon, sprich sie an, dachte sich Karl. Warum sollte man Leute, die man mal kennengelernt hat, nicht ansprechen dürfen? Falsche Scham? Schüchternheit? „Schwachsinn“, sagte Karl leise zu sich selbst und ging weiter. Entschlossenheit war in seiner Statur. Jugendliche Entschlossenheit. Er ging aufrecht mit großen Schritten in ihre Richtung. Fast übereifrig. Links neben ihm das Altersheim, und über ihm die Balkons, deren Schatten ihn vor der heißen Mittagssonne schützten.

Das Mädchen fuhr schnell und kam ihm immer näher. Karl zog kurz an seinem Hemd, um es von der feuchten Brust zu lösen und schaute zu ihrem Gesicht – versuchte Blickkontakt herzustellen. Er befand sich auf dem linken Bürgersteig und steppte ein wenig näher an den Straßenrand, in die heiße Sonne hinein – und hob die Hand zum Schutze über die Augen. Die Frau war fast da, sie raste, beinahe wie auf der Flucht, auf ihrem Rad auf ihn zu, als er den rechten Zeigefinger erhob, wie als wenn er sich in einem Klassenzimmer melden wollte. Er reckte den Finger nach oben und sagte laut, aber mit einem Lächeln: „Jetzt erkenn‘ ich dich aber wieder. Das bist du ja tatsächlich“. Er hoffte, sie würde ihm die Scharade abkaufen, mit der er ihr andrehen wollte, dass er sie gestern nicht erkannt hatte. Denn schließlich hatte er sie ja nicht gegrüßt. Wann geht ein Mann schon einfach so auf eine Frau zu und sagt: Hey, kennen wir uns nicht von woher? Scheiße, die meisten Mädels drehen sich doch sofort weg, wenn sie sich nicht erinnern und halten einen für jemanden, der nur in ihre feuchte Möse schlunzen will. Billige Anmache. Überhaupt dachte Karl, dass alle immer nur das Schlechte von ihm denken. Aber heute nicht, nein. Heute nicht. Auch wenn das ‚in die feuchte Möse schlunzen‘ seine Gedanken waren.

Er überwand seine Schüchternheit und seine schlechten Gedanken und schritt mit einem Bein auf die Straße, als sie fast vor ihm war – und stellte sich ihr wie ein Geisterfußgänger in den Weg. Er erkannte sie. Sie war es, ganz klar. Sie fuhr auf ihn zu, strampelnd, ein schweißiger Film auf der Stirn, während unter der Bluse im strampelnden Rhythmus ihr voller Busen waberte. Er lächelte sie an, wollte sie nochmals begrüßen – aber da fuhr sie in einem geschwungenen Bogen an ihm vorbei. So schnell, dass er den Wind spüren konnte. Sie fuhr einfach vorbei, und er drehte sich ihr nach. Die Speichen der Räder surrten. Und das Surren wurde bereits leiser. Es war für einen kurzen Moment laut, und dann wurde es leiser, ganz schnell leiser. Karl dachte, sie hätte ihn angeschaut, und dann wieder direkt gekonnt ignoriert, wenngleich er sich dem, aufgrund der Kürze des Blickkontakts, im Anschluss darauf wieder gar nicht mehr sicher war. Was habe ich falsch gemacht? Scheiße verdammt. Kann man es so eilig haben? Hat sie mich nicht gehört? Leider erhielt er darauf nur eine Antwort. Denn in dem Moment, als sie an ihm vorbeifuhr, dem Moment kurz vor seinen wieder einmal auftretenden negativen Gedanken, die sie mit ihrem Verhalten heraufbeschwörte, konnte er noch ihre rechte Ohrmuschel sehen: Keine Kopfhörer.

Verunsichert schaute er die Hausfassade des Altersheims hoch, in der Hoffnung, durch die Rentner unbeobachtet geblieben zu sein. Dann dachte er daran, was passieren würde, wenn er sie irgendwann wiedersehen täte. Ob sie sich ihren Mantelkragen hochziehen und ihren Kopf von ihm wegdrehen würde, wie eine Frau, die sich vor einem Peiniger verstecken will. Vielleicht würde er sie ja in dem Park treffen, welcher in der Nähe der Kreuzung ist und welcher im Sommer immer voller Menschen ist. Sie würde vielleicht auf einer Decke mit ein paar Freundinnen sitzen, vielleicht sogar mit einer, die ebenfalls in dem Seminar war, und er würde wieder sein Lächeln aufsetzen, versuchen bei aller Schüchternheit möglichst freundlich und selbstsicher zu wirken, und zu ihnen hingehen um „hallo“ zu sagen. Nein, das würde ich nicht tun. Und wenn doch: Sie würde mich keines Blickes würdigen. Ihre Freundinnen würden sich angewidert und bedrängt abwenden. Was ist denn das für ein Freak? Oh nein, ganz sicher würde ich das nicht tun. Karl konnte nicht aufhören zu denken, und jeder seiner negativen Gedanken war ein lebendiger Beweis dafür. Nichtsdestotrotz versuchte er eine Logik zu finden und rief seine Freundin an. Sie saß gern zuhause auf dem Balkon und las in aller Stille – auch bei dieser Hitze. Sie war die perfekte Partnerin für ihn. Und vielleicht hatte sie eine Erklärung für dieses Verhalten.

Während er zu ihrem Namen im Telefonbuch scrollte, ging er um die Kurve, in die Richtung, aus der die Frau gekommen war. Und hörte ein Kind schreien. Oder zwei? Ja, zwei Kinder. Er hob seinen Blick vom Handy ab und sah einen Mann auf der Straße liegen. Er lag auf dem Bauch, den Kopf zur Seite gedreht. Weit zur Seite gedreht. Zu weit. Das Gesicht, wenn es mal eines gewesen ist, trug auf der ihm zugewandten Seite keine Haut mehr. Sie befand sich in heruntergeschabten Schlieren auf dem dazugehörigen Meter Asphalt, der in gerader, blutiger Spur zum verdrehten Kopf führte. Und das Fleisch, welches sonst feinste Bewegung wie ein zahmes Lächeln ermöglichte, hing plattgeklopft von den Knochen hinunter. Carpaccio, dachte Karl zuerst. Dann überfiel ihn die Realität. Der Mann war tot. Blut trocknete bereits zwischen den kleinen Teerkügelchen auf dem Asphalt. Das linke Bein des Mannes war am Knie gebeugt, jedoch in eine andere Richtung. Karl dachte an das kleine Mädchen im Exorzisten, an die Szene, in der es auf dem Rücken die Treppe hinunterrennt. Das würde der Typ nicht mehr schaffen. Dann hörte Karl wieder die Schreie der Kinder. Eines war ein Baby. Die Schreie kamen aus dem Wagen, der direkt in der Laterne geparkt war, welche die Motorhaube bis zur Hälfte der Frontscheibe geteilt hatte. Der Airbag war geöffnet. Und ebenfalls blutig. Das sah er durch die alten Scheiben des Ford Escorts. Das eine Kind verstummte und nur noch das Baby schrie. Karl konnte das differenzieren. Die Hitze, der geschärfte Blick, angespitzt durch die Gedanken, die ihm die damalige Kommilitonin auf dem Fahrrad bereitet hatte. Sein Blick wanderte über das Auto. Hinten saß ein kleiner Junge, der das Baby auf dem Arm hatte. Die Schreie hörten sich nach einem normal schreienden Baby an. Kein Grund zur Beunruhigung. Dann schaute Karl nochmals auf den Mann. Tot. Mausetot. Es hatte ordentlich geknallt. Der Fahrer rührte sich ebenfalls nicht. Schien nicht angeschnallt gewesen sein. Idiot, war Karls erster Gedanke, dann armer Hund. Und: die arme Familie. Dann kam eine Frau auf ihn zu gerannt. Ihre Augen waren aufgerissen, wie auf der Flucht, oder auf der Jagd? Sie blickte Karl an, als ob sie ihm eine reinhauen wollte, voller Wut. „Rufen sie die Polizei“, rief sie ihm zu, schäumend, mit einer undeutlichen, vor Hass gurgelnden Stimme und blutigen Spuckeblasen auf der Unterlippe. Wie von Geisterhand sprang er aus seiner Kontaktliste und wollte 110 wählen, doch er hielt es für klüger zuerst die Ambulanz anzurufen. Die Frau kam näher auf ihn zu. „Wählen sie die 110, sofort.“ Er wählte dennoch die 112. Sie stand direkt vor ihm, mit weit aufgerissenen Augen. Das Adrenalin und der Puls schienen sie bis zum Mond zu schießen, und wieder zurück zu werfen, bis sie vor ihm anfing, völlig losgelöst zu weinen – und bis sie sagte: „Es ist ihre Schuld. Es ging so schnell. Einfach bei Rot. Mein Mann hat versucht zu bremsen, aber … aber … dann ist er ausgewichen. Diese Hure.“
Karl schaute sie an, und begriff erst nicht, wen die Frau meinte, während sie zerstört auf dem Boden kniete und zu ihm hinaufblickte.
„Haben sie nicht die Frau auf dem Fahrrad gesehen?“

Bedeutungslos

Eine Kurzgeschichte mit dem Namen: Bedeutungslos. Das Bild zeigt einen Grabstein.

Eine Kurzgeschichte aus der Sicht von jemandem, der jemand anders sehr vermisst …

Lesedauer: 8 – 10 Min.


Ich gehe über die Straße. Trübselig schlendernd wie der Roboter in „Per Anhalter durch die Galaxis“. Doch ein wenig Freude ist da. Ich vermisse sie. Denn ich habe sie lange nicht gesehen. Viel zu lange. Und es würde noch viel länger so gehen, wenn ich mich nicht beeilen würde. Daher ziehe ich mein Tempo noch ein wenig an. Der Asphalt ist kalt, seine Oberfläche gefroren. Moment, ich sollte eigentlich langsamer gehen, das weiß ich.

Sophie hat angerufen und nach mir gefragt. Ich soll doch mal wieder vorbeikommen, „einen schönen Abend machen“, hat sie gesagt. Und ich sagte „okay“. Ein schöner Abend. Ich bin gerade auf dem Weg zu ihr und versuche auf dem Eis nicht auszurutschen. Auf meinem Telefon schaue ich in der App weiter und vergesse die glatte Straße. Wische nach rechts, wische nach links. Gefällt mir, gefällt mir nicht, sexy, hässlich, blond, brünett, like it, like it not. Ich schreibe kurz mit Monique. Auch ein schöner Name. Beides Französisch. Ach, wie ich sie vermisse.

Ich rutsche aus, mein linkes Bein entgleitet, und meine Schulter macht ein komisches Geräusch dabei. Aber ich fang mich, alles gut. Und da bin auch schon da. Die Eisenklinke des Tores ist kalt und klebrig gefroren. Wie Trockeneis. Ich will ins Warme. Ich geh‘ die schräge Auffahrt hoch und falle abermals fast hin. Die Schulter knackt noch mal. Immer noch alles gut. Das nächste Tor, wieder ein kalter Griff. Die Hände frieren. Ich seh‘ Sophie oben am Fenster stehen, scheinbar nackt, doch ich lasse mir nichts anmerken. Tue, als ob ich sie nicht gesehen hätte.

Ich klingle und zeitgleich wird in der ersten Etage der Türöffner betätigt. Das laute Surren zerschneidet die winterliche Geräuschkulisse. Ja, sie wartet bereits. Ich gehe hinein, putze mir auf der borstigen Schweinehaarmatte die Schuhe ab und steige die hölzernen Stufen der Treppe hinauf. Unter mir knarzt es wie auf der Straße. Erst frischer Schnee, jetzt altes Holz. Sophie steht an der Tür und trägt einen dezenten, hautfarbenen BH. Leicht durchsichtig, so wie ihr Slip. Wir küssen uns und sie fasst mir an den Schritt. Ihr warmer Atem ist wie die Luft in einem Auto. Und irgendwie wird mir schlecht. Sie drückt und knetet meinen Schwanz und ich spüre wie er trotz aller Übelkeit hart wird. Wenigstens er funktioniert.

Sophie ist beinahe so groß wie ich, hat langes, glattes, schwarzes Haar, und ihre Unterwäsche ist dezent und spärlich – fast als wäre sie nackt. Mein Schwanz ist steif, geschwollen. Sie greift fester zu und ich höre das Knarzen ihrer Nägel an meiner Jeans. Mein Mantel ist längst aus, die Wohnungstür längst hinter uns. Geschlossen? Offen? Wen interessiert das. Für diese kurze glückliche Zeit der Nähe, des Zuhörens, des miteinander Spielens. Ein Jam, eine Komposition, ein kleines Theaterstück. Diesen Fick, den nehm‘ ich noch mit.

Die Übelkeit ist längst wieder da, als ich leise meine Hose hochziehe. Ich weiß nur nicht recht warum. Oder doch? Ich bin früher schon nie gerne Auto gefahren, lieber zu Fuß gegangen. Das lag an diesem Plastikgeruch. Diese muffige, drückende Autoheizungsplastikluft. Aber Sophie? Ich weiß es nicht. Und ich vermisse sie immer noch. Doch wieso? Sophie liegt doch neben mir. Mein Sperma trocknet auf ihrem Hintern wie der Zuckerguss auf frischem Gebäck. Ich höre mein Handy irgendwo im Mantel wie es vibriert. Dann Stille. Dann vibriert es wieder. Dann wieder Stille. Draußen nimmt die Kälte Überhand. Dunkle, blattlose Baumkronen krallen sich in den blassen Himmel gleich schwarzen Gräten in einer teigigen Fischsuppe. Sophie furzt. Ich schaue auf mein Handy. Monique hat nochmal geschrieben. Und jemand anders. Celine. Na, haben wir beide morgen ein Date? Nur du und ich? Ihr Muttermal oberhalb der Oberlippe ist Lebensraum. Ein großes, dunkles Biotop. Ein rundes Grabmal. Doch wer wünscht sich schon den Tod? Celine ist peinlich und traurig, so wie ich, und ich wische einfach nach links. Auf Wiedersehen. Ich knöpfe mein Hemd zu, versuche über den Tellerrand nach draußen zu schauen und fange an zu weinen. Dann schreibe ich Monique, obwohl ich weiß, dass ich sie nicht sehen werde.

Zu Hause sitze ich am Fußende des großen leeren Bettes und starre an die Wand. Unter meinen baren Füßen knarzt der Holzfußboden. Alles dasselbe, aber niemals das Gleiche. Der Himmel hat sich von milchigem weiß in ein zähes grau verwandelt. Ein gelungener Wandel. Das Licht ist rar, doch es genügt für den Blick an die Wand aus zartem Grün. Grün wie der Kern einer frischen Pistazie. Grün wie das keimende Leben, wie die Hoffnung. Kleine Bilderrahmen zeigen dort an der Wand eine Frau in Weiß und Gold. Kleider wie eine Fassung aus Licht, und Rahmen wie der Ring um einen Diamanten. Nur schmückende Träger des edlen einzig Wichtigen. Mal lächelt sie, mal schaut sie ernst, mal schaut sie weg, mal zu mir hin – auf mein Replikat, direkt neben Ihr, auf dem Foto. Wir sehen verliebt aus.

Ich bin alleine. Ich wische mir frische Tränen aus dem Gesicht und breche auf den Teppich. Kleine halb aufgelöste Kapseln dümpeln vor sich hin und verlassen mich wie Rettungsboote ein sinkendes, stinkendes Schiff. Antidepressive Zwei-Mann-Schnellboote. Im Dreiertrupp. Na klar doch. So beiläufig wie die fragwürdigen Französinnen. Bis auf Sophie. Sie hatte was. Aber es war nicht genug. Ein kleiner Schnitt links, dann einer rechts. Zackig, konzentrieren. Ich schließe die Augen und warte. Ja, es geht schnell. Gott sei Dank. Meine Sinne entgleiten mir, mein Blick wird trüb, und ich spüre wie ich mir in die Hosen mache. Es wird warm. Aber ein wenig Angst wird erlaubt sein. Ich habe es zumindest probiert.
Dann verfliegt die Übelkeit, wie eine Schwalbe mit Überschall. Mir geht es gut. Und gleich bin ich bei dir mein Liebling. Gleich bin ich bei dir. Ich höre die Tropfen meines eigenen Blutes, wie sie auf den alten Holzfußboden prasseln. Erst beinahe fließend, dann langsamer, und dann nur noch vereinzelt, wie ein minutiöses Metronom. Bis es sich verliert, so wie ich sie verloren habe.