Bedeutungslos

Eine Kurzgeschichte aus der Sicht von jemandem, der jemand anders sehr vermisst …

Lesedauer: 8 – 10 Min.


Ich gehe über die Straße. Trübselig schlendernd wie der Roboter in „Per Anhalter durch die Galaxis“. Doch ein wenig Freude ist da. Ich vermisse sie. Denn ich habe sie lange nicht gesehen. Viel zu lange. Und es würde noch viel länger so gehen, wenn ich mich nicht beeilen würde. Daher ziehe ich mein Tempo noch ein wenig an. Der Asphalt ist kalt, seine Oberfläche gefroren. Moment, ich sollte eigentlich langsamer gehen, das weiß ich.

Sophie hat angerufen und nach mir gefragt. Ich soll doch mal wieder vorbeikommen, „einen schönen Abend machen“, hat sie gesagt. Und ich sagte „okay“. Ein schöner Abend. Ich bin gerade auf dem Weg zu ihr und versuche auf dem Eis nicht auszurutschen. Auf meinem Telefon schaue ich in der App weiter und vergesse die glatte Straße. Wische nach rechts, wische nach links. Gefällt mir, gefällt mir nicht, sexy, hässlich, blond, brünett, like it, like it not. Ich schreibe kurz mit Monique. Auch ein schöner Name. Beides Französisch. Ach, wie ich sie vermisse.

Ich rutsche aus, mein linkes Bein entgleitet, und meine Schulter macht ein komisches Geräusch dabei. Aber ich fang mich, alles gut. Und da bin auch schon da. Die Eisenklinke des Tores ist kalt und klebrig gefroren. Wie Trockeneis. Ich will ins Warme. Ich geh‘ die schräge Auffahrt hoch und falle abermals fast hin. Die Schulter knackt noch mal. Immer noch alles gut. Das nächste Tor, wieder ein kalter Griff. Die Hände frieren. Ich seh‘ Sophie oben am Fenster stehen, scheinbar nackt, doch ich lasse mir nichts anmerken. Tue, als ob ich sie nicht gesehen hätte.

Ich klingle und zeitgleich wird in der ersten Etage der Türöffner betätigt. Das laute Surren zerschneidet die winterliche Geräuschkulisse. Ja, sie wartet bereits. Ich gehe hinein, putze mir auf der borstigen Schweinehaarmatte die Schuhe ab und steige die hölzernen Stufen der Treppe hinauf. Unter mir knarzt es wie auf der Straße. Erst frischer Schnee, jetzt altes Holz. Sophie steht an der Tür und trägt einen dezenten, hautfarbenen BH. Leicht durchsichtig, so wie ihr Slip. Wir küssen uns und sie fasst mir an den Schritt. Ihr warmer Atem ist wie die Luft in einem Auto. Und irgendwie wird mir schlecht. Sie drückt und knetet meinen Schwanz und ich spüre wie er trotz aller Übelkeit hart wird. Wenigstens er funktioniert.

Sophie ist beinahe so groß wie ich, hat langes, glattes, schwarzes Haar, und ihre Unterwäsche ist dezent und spärlich – fast als wäre sie nackt. Mein Schwanz ist steif, geschwollen. Sie greift fester zu und ich höre das Knarzen ihrer Nägel an meiner Jeans. Mein Mantel ist längst aus, die Wohnungstür längst hinter uns. Geschlossen? Offen? Wen interessiert das. Für diese kurze glückliche Zeit der Nähe, des Zuhörens, des miteinander Spielens. Ein Jam, eine Komposition, ein kleines Theaterstück. Diesen Fick, den nehm‘ ich noch mit.

Die Übelkeit ist längst wieder da, als ich leise meine Hose hochziehe. Ich weiß nur nicht recht warum. Oder doch? Ich bin früher schon nie gerne Auto gefahren, lieber zu Fuß gegangen. Das lag an diesem Plastikgeruch. Diese muffige, drückende Autoheizungsplastikluft. Aber Sophie? Ich weiß es nicht. Und ich vermisse sie immer noch. Doch wieso? Sophie liegt doch neben mir. Mein Sperma trocknet auf ihrem Hintern wie der Zuckerguss auf frischem Gebäck. Ich höre mein Handy irgendwo im Mantel wie es vibriert. Dann Stille. Dann vibriert es wieder. Dann wieder Stille. Draußen nimmt die Kälte Überhand. Dunkle, blattlose Baumkronen krallen sich in den blassen Himmel gleich schwarzen Gräten in einer teigigen Fischsuppe. Sophie furzt. Ich schaue auf mein Handy. Monique hat nochmal geschrieben. Und jemand anders. Celine. Na, haben wir beide morgen ein Date? Nur du und ich? Ihr Muttermal oberhalb der Oberlippe ist Lebensraum. Ein großes, dunkles Biotop. Ein rundes Grabmal. Doch wer wünscht sich schon den Tod? Celine ist peinlich und traurig, so wie ich, und ich wische einfach nach links. Auf Wiedersehen. Ich knöpfe mein Hemd zu, versuche über den Tellerrand nach draußen zu schauen und fange an zu weinen. Dann schreibe ich Monique, obwohl ich weiß, dass ich sie nicht sehen werde.

Zu Hause sitze ich am Fußende des großen leeren Bettes und starre an die Wand. Unter meinen baren Füßen knarzt der Holzfußboden. Alles dasselbe, aber niemals das Gleiche. Der Himmel hat sich von milchigem weiß in ein zähes grau verwandelt. Ein gelungener Wandel. Das Licht ist rar, doch es genügt für den Blick an die Wand aus zartem Grün. Grün wie der Kern einer frischen Pistazie. Grün wie das keimende Leben, wie die Hoffnung. Kleine Bilderrahmen zeigen dort an der Wand eine Frau in Weiß und Gold. Kleider wie eine Fassung aus Licht, und Rahmen wie der Ring um einen Diamanten. Nur schmückende Träger des edlen einzig Wichtigen. Mal lächelt sie, mal schaut sie ernst, mal schaut sie weg, mal zu mir hin – auf mein Replikat, direkt neben Ihr, auf dem Foto. Wir sehen verliebt aus.

Ich bin alleine. Ich wische mir frische Tränen aus dem Gesicht und breche auf den Teppich. Kleine halb aufgelöste Kapseln dümpeln vor sich hin und verlassen mich wie Rettungsboote ein sinkendes, stinkendes Schiff. Antidepressive Zwei-Mann-Schnellboote. Im Dreiertrupp. Na klar doch. So beiläufig wie die fragwürdigen Französinnen. Bis auf Sophie. Sie hatte was. Aber es war nicht genug. Ein kleiner Schnitt links, dann einer rechts. Zackig, konzentrieren. Ich schließe die Augen und warte. Ja, es geht schnell. Gott sei Dank. Meine Sinne entgleiten mir, mein Blick wird trüb, und ich spüre wie ich mir in die Hosen mache. Es wird warm. Aber ein wenig Angst wird erlaubt sein. Ich habe es zumindest probiert.
Dann verfliegt die Übelkeit, wie eine Schwalbe mit Überschall. Mir geht es gut. Und gleich bin ich bei dir mein Liebling. Gleich bin ich bei dir. Ich höre die Tropfen meines eigenen Blutes, wie sie auf den alten Holzfußboden prasseln. Erst beinahe fließend, dann langsamer, und dann nur noch vereinzelt, wie ein minutiöses Metronom. Bis es sich verliert, so wie ich sie verloren habe.