Höhlen 02

Eine neue Erzählung über die Eigenarten diverser Großstädter in ihren Fortbewegungsmitteln …

Lesedauer: 8 – 10 Min.


Ein Mann geht die Rolltreppen hinunter, auf dem Weg zum Vorstellungsgespräch. Stell sich das einer vor – fremde Stadt, fremder Bahnhof, fremde Tunnel. Alles neu. Und dennoch geht er die metallenen Stufen, die am Anfang und am Ende der Treppe mit scharfen Reißzähnen wie Tetris-Würfel ineinandergreifen, hinunter wie er es immer tut – ohne sich von ihnen tragen zu lassen.

Er geht Stufe für Stufe, ohne stehen zu bleiben, in seinem Tempo, eher gemütlich als gehetzt. Seine Augen sind wach und offen. Links herum, ja da ist sein Weg. Und Zeit ist genug. Also auch Zeit für einen Rundumblick. Es sieht ein wenig anders aus hier als zuhause, altbackener, backsteinoresker. Schon im Zug war ihm aufgefallen, dass ein Großteil der Stadt Ähnlichkeit mit dem gängigen Stil deutscher Arbeitsämter hat: Wenn überhaupt, dann praktisch. Dies aber auch nur im Katastrophenfall. Hübsch? Keineswegs. Trotzdem findet das Gespräch dort statt. Einer kann sich eben nicht immer alles aussuchen, auch wenn er das überall zu hören bekommt. Träume. Und so scharwenzelt der Mann in Richtung einer wartenden unterirdischen Bahn, welche die seine zu sein scheint. Doch Unsicherheit ist es, die mit ihm die klapprigen Stufen in das Innere der Bahn erklimmt. Denn er hat zwar Zeit, aber so viel nun auch nicht, dass er sich verfahren dürfte. Das Gespräch ist wichtig. Da wäre es schon gut, ein wenig überpünktlich zu sein.

Wo steht in dieser verkackten Stadt, was für eine Bahn das ist? Das Gleis ist richtig, aber ist es auch die richtige Bahn? Sie ist alt und lang und hat nicht die Displays an den Seiten, wie sie moderne Bahnen haben. Ihre Farbe ist ein in ein Braun übergehendes Gelb. Und sie hat dunkelrote Ledersitze. Leder. Sowas gibt es in seiner Stadt schon lange nicht mehr. Der Mann möchte jemanden fragen, aber die Aufnahme von Blickkontakt ist komplizierter geworden – heutzutage sieht einer nur noch haarige Hinter- und Oberköpfe. Alle blicken auf ihren Schoß, oder auf ihre Geschlechtsteile, diese selbstverliebten schwanz- und mösenfixierten Geier. Nein, natürlich blicken sie auf ihre Handys. Und da rattert auch schon die Tür zu. Scheiße.

„Hallo?“ fragt er ziellos in den Gang. „Hallo?“ Aber nichts passiert. Der Mann geht rückwärts den Gang entlang, versucht ein Gesicht zu erhaschen. Doch nichts. Dann sieht er es in ihren Ohren: Kopfhörer. Überall. Ätzend. Er könnte am unterirdischen Bahnsteig stehen, eine Frau vergewaltigen, sie in den Arsch ficken, dass das Blut nur so aus der Rosette spritzt, und keiner würde etwas merken. Dann könnte er sich die nächste Frau schnappen – und noch eine und noch eine. Bis zum Betriebsschluß in 14 Stunden könnte er Rosetten knacken wie Walnüsse an Weihnachten. Dann könnte er sich die Männer vornehmen. Wenn ihm dann langweilig werden würde, könnte er Kinder entführen, oder besser noch: sie verprügeln und verdreschen, weil sie so laut sind, wenn sie in Bündeln in die Bahnen strömen. Totschlagen könnte er sie sogar, eines nach dem anderen, ihnen dann ihre ganzen Smartphones und Turnschuhe abluchsen und bei Ebay viel Geld damit machen. Kinder wachsen schließlich schnell. Akkurates Modewerk zum guten Preis ist daher gut gefragt. Hach, welch ein Paradies für den ohne Moral. Er könnte alte Damen mit ihren Handtaschentrageriemen erwürgen – so lange, bis ihre trockenen dehydrierten Zungen weit über ihre beflaumten Unterkiefer hinaushängen würden. Dann könnte er zu ihnen nach Hause gehen, ihre Renten kassieren, mietfrei wohnen, ein Leben lang. Hach, was alles so plötzlich möglich scheint, in einer unterirdischen Haltestelle. Vergewaltigung, Mord, Raub. Die bösartige Dreifaltigkeit.

In der Steinzeit musste man aufmerksam sein. Sonst gabs mit der Keule. Oder ein dreißig Zentimeter langes Insekt, dessen Stachel klugerweise wie ein getarnter Halm der Waldmeisterpflanze aus dem Busch hervorlugte, stach einen, und das Gift sorgte dafür, dass einem die haarigen Eier zu ödematösen Melonen anschwollen, ehe schließlich kleine bissige Maden aus der Harnröhre krochen, die wiederum, nachdem ihnen Beine gewachsen waren, in das Arschloch krabbelten und … Ja, man musste ganz schön aufpassen. Überall gefährliches Getier, und zahnlose Kontrahenten, die der eigenen Braut an die Schenkel wollten. Dazu die wilden Jahreszeiten zwischen Blizzard und Dürre. Gefährliches Pflaster.

Heutzutage hingegen scheint es nicht so gefährlich. Alles geht gesittet zu, ist aufgeräumt. Jeder Schlüpfer findet seine entsprechende IKEA-Schublade. Doch übersieht der moderne Mensch bei all der in Schönheit und Prunk getünchten Sinnlosigkeit wie ihm geschehen könnte. Er ist abgelenkt. Das Teuflische daran: Ablenkung ist immer erst im Nachhinein erkennbar, nach der Gefahr. Ohne Gefahr besteht schließlich kein Grund zur Besorgnis. Wie bei einem getarnten Insekt.

Der Mann jedoch kann sich darüber nicht so die Gedanken machen. Es fällt ihm zwar auf, dass etwas nicht ganz stimmig ist, in seiner Umwelt, aber er muss sich schließlich immer vergewissern, dass er in der richtigen Bahn ist, und geht daher, sichtlich schlecht gelaunt, da er mal wieder gezwungen wird, sich in den Dreck zu hocken, in die Knie – und nimmt sprachlichen Kontakt zu einer Frau auf. Der darauffolgende Blick in ihrem Gesicht gleicht in etwa dem Anblick eines getrockneten Fensterleders – etwas steif, eher unbrauchbar. Wie als wenn eine bodenständige Zahnarzthelferin mit Rechnungsdruck in einer Weiterbildung sitzt und der Dozent ausschweifend über das poststrukturalistische Rhizommodell von Gattari und Deleuze doziert: offene Augen, offener Mund, keiner da. Umso erstaunlicher daher die Antwort der Frau auf die Frage, ob dies die Bahn nach Duisburg sei, welche unser Protagonist aufgrund der erwähnten Ähnlichkeit ihres Gesichtsausdruckes zu einem Fensterleder in der ihm rudimentärsten Sprache formuliert: „Duisburg?“

Subjekt, Prädikat und Objekt sind ausgelöscht. Ziel bedeutet das neue Paradigma der Satzkonstruktion. Und es birgt erfolgsversprechende Ergebnisse: Denn die Frau antwortet mit: „Ja.“ Zwar klingt es als hätte sie nach Jahren des Komas und Sabberns ihr erstes Wort gesagt, doch das Problem ist gelöst. Die Bahn ist die richtige. Der Kopf der Frau sinkt wieder hinab. Kein Grund mehr, die Gesprächssituation weiter aufrecht zu erhalten. Dem Mann jedoch ist es in diesem Moment egal. Seine Transpiration stoppt. Eine weitere unnötige Beunruhigung im wilden modernen Dschungel neigt sich dem Ende zu. Der Puls entschleunigt. So lange der Wagen läuft, läuft er. Alles gut.

Der Protagonist setzt sich, bereitet sich vor, auf seine Vorstellung, schaut aus dem Fenster hinaus in den dunklen Tunnel. Seine Augen folgen nystagtisch den vorbeirauschenden Fugen des unterirdischen Mauerwerks. Ein Reflex so schnell wie der eines gefährlichen Tiers. Willentlich unmöglich durchzuführen. Dann wird die Bahn wieder langsamer, das Ruckeln und Schleifen leiser, sie fährt in die nächste unterirdische Haltestelle ein. Die sich beruhigenden Augen des Mannes fallen auf eine schwarze Halbkugel, tennisballgroß. Sie ist an der Decke und schaut wie das Facettenauge eines Insekts, ja eines Reptils im 360°-Winkel herab. Eine Kamera. Ein übergroßes Auge, unmenschlich, aber effektiv, und es passt auf alles auf. Der Protagonist schaudert, und das schwarze Auge registriert. Dann vibriert etwas. Eine Ablenkung. Und er senkt seinen Kopf und vergisst.

Wir alle haben es so gewollt.