Höhlen

Eine Erzählung über die Eigenarten diverser Großstädter in ihren Fortbewegungsmitteln …

Lesedauer: 8 – 10 Min.


An manchen Tagen, unausgeschlafen nach unruhigen Nächten, sind die Sinne schärfer als sonst. Dazu gereizter, angespannter. Die Nerven stehen unter Strom, haben nicht mehr viel Spielraum, und sind zu jeder Sekunde kurz vor der Reizüberflutung. Dann geht es ganz schnell: Overshoot. Eine merkwürdige Todesanzeige in der Zeitung, getragen von Erinnerungen, und es wird direkt losgeheult. Eine falsche Dosierung Biers am Abend und einem wird – trotz diagnostizierter Trinkfestigkeit – sofort übel. Alles ist selbst in kleinen Dosen zu viel – nach solchen Nächten. Außer Schönes.
Der wärmende Sonnenstrahl im Gesicht, der einen küsst, wenn die U-Bahn-Rolltreppe ihr Ende nimmt und einen an der Oberfläche absetzt. Der kleine Handjob – in einer Kneipe – von einer betrunkenen Rothaarigen, die einen in der dunklen Ecke neben dem Zigarettenautomaten vernascht. Alles schöne Sachen. Schöne Sachen, die es nicht gibt, am frühen Morgen, ohne Sonnenschein, und ohne Rothaarige – in einer U-Bahn-Haltestelle, deren Linie den Hauptschwung der arbeitenden Bevölkerung zu ihren Arbeitsplätzen karrt. Die Linie, dessen kreischendes Gekrächze der metallenen Räder den abrupten Halt ankündigt, der sogleich signalisiert, dass das Leben in der Stadt ein Leben aus Vollgas – und Vollbremsung ist. Zu knappe Fahrpläne, die eingehalten werden wollen, und Stechuhren, die gelocht werden wollen. GPS-Daten, die einen noch weiter antreiben – und einem den schnellsten und einfachsten Weg zeigen. Aber eben nicht den schönsten.

In der Steinzeit war das Leben hart. Kalte, tiefe Ritzen im Stein dienten als Unterschlupf, in denen Feuer geschürt wurde. Für einen selbst, für die Liebsten, und vielleicht mal für einen hineinschneienden Fremden, der zwar kalten, aber dafür frischen Wind mit sich brachte – in die triste Einödnis des Lebens aus Jagen, Rennen, und Flüchten – aus Krankheit, mangelnder Hygiene, schlechten Zähnen und kurzer Lebenserwartung. Das Leben war hart – und irgendwie war alles gleich. Und naja, manchmal bekam der Fremde natürlich auch eins mit der Keule. Wer weiß das schon genau?

Heute pfeift der Wind durch die langen Tunnel der Haltestelle. Dieser erste kalte Wind, direkt nach dem Sommer. Die Menschen an den unterirdischen Steigen ziehen ihre Krägen hoch, wenn sie denn welche haben, so übermüdet und übereilt sie – die Fahrpläne sind ja knapp und streng – das wärmende Haus verlassen haben. Sie legen sich die Haare zurecht, im Spiegelbild der Plexiglasscheiben einer U-Bahn, welche am gegenüberliegenden Gleis hält. Legen sich mit einem vorsichtigen Griff, ganz unbeobachtet – wie sie glauben – den Pimmel auf die richtige Seite, und gucken nochmal, ob sie alles haben: Handy, Schlüssel, Portemonnaie. Die Bewaffnung der modernen Überlebenskünstler.

Wenn der Zug dann einfährt, und alles vorbereitet ist, geht es schnell zur Sache. Zu schnell für jemanden, der zu erschöpft ist, sich dem Willen des Schwarms zu beugen. Taschen werden in Kniekehlen geschleudert, es wird im Weg gestanden, es wird geschubst, dazu siedend heißer Kaffee aus instabilen Pappbechern, Gefahr über Gefahr – ehe das eigene Handy herunterfällt. Und eine Frage aufkommt: Ticken alle noch ganz richtig? Halb auf den Knien wird über den Boden aus roten speckigen Steinen gekrabbelt, frisch imprägniert mit dem zähen Film des vergangenen Wochenendes. Da, das Handy. Die Waffe für den Tag. Ein schneller Griff und es wird wieder aufgestanden. Es wird sich emporgereckt, in der morgendlichen Panikhast, die der streng getacktete Halt des Zuges in der Masse der zur Arbeit Fahrenden auslöst. Und schließlich wird sich selbst an die Taschen gegriffen: Brust, Seite, Gesäß. Handy, Schlüssel, Portemonnaie. Ja, alles da. Währenddessen rempeln Körper in einen rein und es wird sich angetrieben. Bis das Innere der Bahn endlich erreicht ist. Und die Türen sich zischend schließen.

Im Innern ist es warm, und es wird sich gegenübergestanden. Jedoch ohne sich anzuschauen. Kleine peinliche Berührungen in der wartenden Menge werden mit einem schüchternen Zurückziehen des Körperteils und einer sofortigen Entschuldigung in die Welt des Zufalls und der Rechtfertigung verfrachtet. Keine Kommunikation. Keine Ansprache. Nur Kopfhörer. Und: Spiegelbilder. Eine Frau, jung und schön, wenn sie nicht aussehen würde wie alle anderen, beschaut ihr Bild in der Reflexion des in der Dunkelheit fahrenden U-Bahn-Zuges. Sie beschaut es, und beschaut es nochmal. Dreht leicht ihren Kopf. Erst nach links, dann nach rechts. Dann wieder nach links. Fallen die Haare auf beiden Seiten gleich? Sie geht sich mit dem langen Nagel des rechten Zeigefingers ans Gesicht und trennt eine scheinbar auffällige, dicke Strähne aus Haaren in zwei gleich große kleinere Strähnen. Alles muss perfekt sein. Alles muss liegen. Wie bei – wie hieß sie noch gleich? Die aus dem, ach, ich bin viel hübscher. Dann erst ist das Werk vollbracht. Bis zur nächsten Reflektion, die eigentlich jemanden anderes zeigt.

Dann gehen die Türen wieder auf und der Strom bricht los. Fließend, nein, reißend, keine Zeit für ein Hinterfragen – rechts aus der Tür hinaus, und die Rolltreppe hinauf. Zum unerwiderten Kuss der Sonne.
Nur einer nicht. Er bleibt am Steig stehen, muss auf die nächste Bahn warten. Und steht somit wieder im Weg, wird angerempelt, und erhält einen kurzen Fluch von einer dicken Frau, die ihr Schiff von Arsch nicht beim ersten Versuch an ihm und seinem Rucksack vorbeibekommen hat. Das Leben ist hart – und ihr Arsch ist es auch. Ein Spiegel täte ihr gut.

Als sich die Unruhe legt, liegt am gegenüberliegenden Bahnsteig ein Mann. Über drei Sitze verteilt und etwas ab vom Schuss der Masse. Seine Zehen ragen nackt und dreckig aus dem kaputten Schuhwerk hervor. Die Haare sind lang und verfilzt. Seine Jacke ist dunkelgrün und schwarz. Vor den Sitzen stehen zwei Einkaufstüten. Hab und Gut. Beziehungsweis Leer – und Gut. Verzeihung für das Wortspiel, denn es beschreibt den Kontostand eines armen Mannes.
So liegt er dort und schläft, auf den orangenen, festgeschraubten Plastikstühlen – mit allem, was er hat – und ohne Spiegel. Die Steine zwischen den Gleisen funkeln spitz und schwarz wie Kohle unter Tage, während der kalte Wind durch die tiefen Schächte jagt. Und der Mann liegt auf den Stühlen und schläft, erschöpft, gehört nicht dazu, ist ein Fremder, wie ein Mann aus einer anderen Zeit. Ein Fremder, der in einer Höhle Zuflucht gefunden hat.

Letzten Endes offenbaren einem dann die geschärften Sinne, dass sich gar nicht so viel verändert hat. Es gibt ein längeres Leben – und alles ist ein wenig hübscher geworden: aufrechter Gang, glatte Haare und viele weiße Zähne. Zum Pech des Einzelnen jedoch gesellt sich die Erkenntnis, dass ein schönes Gebiss, noch nie in irgendeinem Leben, ein schönes Lächeln ersetzt hat.