The Essence of It All

I cannot really explain, but
to me –
she is like apple cake with cream,
like salty caramel chocolate,
like a sports bag full of money.

She is like going out with my best friends –
with the taste of beer and a cigar on my lips,
and she is like a job with a thousand days off –
each year.

She is like a little house with a tiny garden
and one giant tree,
and like thousand dogs and babies
who are all jumping and smiling at me.

To me –
she is anything one can crave for.

Peace and love on Earth.

Madly I want to be with her, want to touch her,
feel her, inhale her, breathe her.

She is the origin,
that one cell,
brimming with harmony, love, and warmth.

In fact, she is –
the purest essence of it all.

Stranded

Everybody’s stranded.
I can see it in their tired eyes.
When they are about to leave the bars and clubs –
late at night, almost in the morning.
After they’ve slipped into their coats and jackets,
slightly strangled themselves with their scarves –
knowing they got to get back into the cold;
knowing they got to get back to their lifes on hold.

When they turn around and look right into my eyes
it’s like a bitter cry.
A yearning –
as if they feel I might understand,
or as if I might know and have –
their safe word at hand.

But I am not that much.
I am neither help nor emergency call,
since I am –
likewise,
just stranded too,
like them all.

Das Leben ist mein Fleisch

Ausgedrückt.
Verloren.
Alles schwarz.

Am Kabel hängend,
ohne Enterhaken –
das passiert auch Schwergewichten.

Völlig am Ende.

Oft schon hab ich versucht zu widerstehen, aber:
keine Chance.
Resilienz: Minus 1.000; wenn nicht mehr.

Weitermachen.
Immer weitermachen.
Niemals aufgeben.

Ja, das ist der richtige Blues.

Leg noch eine Wurst auf den Grill!
Notfalls nehm ich noch ne Pille, denn:
wird schon schiefgehen.

Und eine nehm ich noch, ne Zigarette,
süchtig, wie ich bin –
nach dem Leben.

Ich will alles, dafür mach ich das.
Notfalls bis die Muskeln krampfen;
blockieren wie nach nem Headbutt in der Kneipe.

Mein Geist hält das schon durch;
denn der will und will und will.
Immer weiter.

Er treibt mich, pushed mich,
ist die einzige Kontrolle.
Eine fremde, kraftvolle Macht.

Wie ein wilder Wolf heult er, in dickem schwarzem Fell.
Noch schwärzer nur –
vor einem Bokeh aus weißem Schnee.

Komm schon! Eine Nase noch, nur eine.

Schwach.
Ausgepumpt.
Gemolken.

Nur noch Wundwasser!

Und doch: Ich mach weiter, mit dem Leben.
Immer weiter.
Bis zum letzten wunden Tropfen.

Leg noch eine Wurst auf den Grill …

Tristesse –

allein der Klang in ihrem Namen.
Jahr für Jahr verlieb ich mich erneut,
wenn‘s friert und graut und dunkel scheint,
und tief in mir die Seele weint.

Wenn niemand rausgehen mag,
treffen wir uns, heimlich –
unterm Geäst aus Leid und Schmerz.
Ein Kuss voll Liebe, händchenhaltend –
steht‘s dann still, mein einsam Herz.

Tristesse –
allein der Klang in deinem Namen.
Dieser Schwung, das scharfe s –
aufwühlend wie raues Wasser,
ein behaglich warmes Nest.

Doch kannst du niemals ewig bleiben,
musst weiterziehen, aus meinem Leben scheiden.
Es ist Bestandteil deines Seins,
und ganz ehrlich, ohne den –
wärst du, Tristesse, auch gar nicht meins.

Das Rätsel der Unsterblichkeit

Ich grab mich durch die Erde,
gehör hier gar nicht hin.
Ich wachse, schaffe Berge –
Ungetüme ohne Sinn.

Ich zerschneide Magen-Därme,
spieß mich förmlichst durch.
Ich lass mich kau‘n und schwärme –
durch jedes Meer hindurch.

Ich trage viele Namen,
die meisten unbekannt.
Ich bin im Netz, im Halm, in Garnen –
feinster Staub im Kindersand.

Durch jede Hand, in jedem Land,
bin ich an jedem Ort.
Ich werd gebraucht, bin anerkannt –
du kriegst mich nicht mehr fort.

Selbst wenn du gehst, bleib ich zurück,
und fliege mit dem Wind.
Und wenn du stirbst, es ist verrückt –
bin ich im neugebor‘nen Kind.

Glück

Oh wie ich dich verschmäh!
Vergehst du zeitlebens stets und jäh,
bevor ich dich weder spür noch seh.

Du kamst mir wohl manchmal zart entgegen,
doch eher so, als wärst nicht du’s gewesen.
So erkannt ich nie, dass du warst da,
bis das was ist, dann bloß noch war.

Ich bin ganz ehrlich: Das verwirrt!
Es lässt mir keine Ruh.
Ich schlag Töpfe, hau fest drauf –
plötzlich spielst du Blindekuh.

Zu fassen kriegt ich dich noch nie,
doch ist dies Teil des Spiels.
Drum rat ich weiter, renn noch schneller –
auch in Ermangelung eines wahren Ziels.

Messerstecherei

Eine Kurzgeschichte mit dem Namen: Messerstecherei. Das Bild zeigt eine dunkle Brücke bei Nacht. Die Lichter eines Busses sind aufgrund hoher Belichtungszeit nur als Linien zu erkennen

Eine Kurzgeschichte über zwei Männer, die sich in der Nacht unter einer dunklen Brücke begegnen. Was glaubst du, was passiert?

Lesedauer: 20 – 25 Min.


Er hatte den Abend als eine kleine Feierlichkeit geplant gehabt. Ein Konzert, drei Bands, ein paar Bier, dann noch einen Happen zu essen und im Anschluss gemütlich nach Hause. Ein guter Samstagabend, spätestens um eins im Bett. Nicht der Rede wert. Jedoch war er nach dem Gig noch mit einigen Bekannten in einer Kneipe gelandet, worauf im Anschluss eine Bar folgte, ehe er dann mit den Bekannten und einigen ihm eher Unbekannten in einer noch unbekannteren Wohnung versackt war, wo sie alle gemeinsam die als anfänglich klein geplante Feierlichkeit zu einem Film mit Überlänge dehnten – ohne Logenplatz.
    Der Küchenstuhl war unbequem, die Unterhaltungen nach all der Dauer zermürbend, und das Bier schmeckte ihm auch nicht mehr. Er war müde und wollte heim. Er zog sich seinen grauen Wollpullover über das Hemd, band seinen wollenen Schal um, ein Geschenk seiner Freundin, nun schwer nach Kippen stinkend, und verabschiedete sich kurz und knapp von den anderen Übriggeblieben – bekannte, wie auch unbekannte –, während er sich, leicht schwindelnd von der verrauchten Luft, seinen ebenso wollenen Mantel überzog. Das war um kurz nach fünf Uhr in der Früh, die späte samstägliche Nacht.
    Er würde ein gutes Stück zu laufen haben, denn er befand sich im Norden der Stadt, weit hinter dem Arbeitsamt, in der Nähe des Hafens. Eine bunte sowie auch graue Gegend, viele Kulturen, viel Kunst, aber auch Missverständnisse, Verbrechen und Gewalt.
    Er würde erst zum Bahnhof gehen müssen, dort den entsprechenden Bus nehmen – vielleicht bliebe noch Zeit etwas zu Essen, das wäre gut und geplant war es ja eh – und dann würde er von der Endhaltestelle den Rest zu Fuß laufen müssen. Aber alles kein Problem. Er lief gerne, auch wenn er angetrunken war. Wenngleich es heute bitterkalt war. Und mittlerweile war er doch auch ganz schön müde, und mehr als angetrunken, oh ja. Und der Weg, der Weg war ganz schön lang.

An der Wohnungstür verabschiedete er sich noch ein allerletztes Mal in die Runde, damit ihm auch wirklich niemand auch nur das geringste Quäntchen Unhöflichkeit nachsagen konnte, und ging dann leicht wankend die Treppen hinunter. In welchem Stockwerk war er nochmal? Unwichtig. Kurz stehen bleiben, fokussieren, die Ruhe aufnehmen. Das plötzliche Bewegen hatte ihn überfordert. Er schloss die Augen, sammelte sich, und ging mit der Hand über den alten Putz an der Wand des Treppenhauses, erfühlte seine Position im Raum, in der Welt. Die Stille tat gut.
    Unten, auf der kalten Straße, begegnete ihm eine junge blonde Frau, die gerade ihr Fahrrad abschloss. Er sagte „Hi“ zu ihr. Sie sagte „Hi“ zu ihm und lächelte. Kurz überlegte er stehenzubleiben, aber sein „Hi“ war eher ein Reflex gewesen. Ein Reflex, der ihrem schönen Gesicht geschuldet war, das wusste er. Er fühlte sich zu angetrunken und zu müde, um ein anständiges Gespräch aufrechtzuerhalten, geschweige denn eines beginnen zu können. Dabei hätte das „Hi“ und der Satz mit dem Reflex und ihrem schönen Gesicht bereits gereicht, und sie hätte ihn in ihre Wohnung eingeladen, in ihr Bett. Das wusste er jedoch nicht.
    Er verließ die Straße mit der jungen Frau und mit ihr den Gedanken, sie küssen zu wollen. Die kalte steife Luft machte ihm nun deutlich, wie lange er wirklich unterwegs gewesen war. Es waren beinahe null Grad. Der Winter war da und die Kälte der Nacht hatte ganze Arbeit geleistet, hatte die Straßen leergefegt – bis auf ein paar vereinzelt Umherstreunende auf ihrem ganz eigenen Heimweg.
    Die junge Frau war bereits in ihrer Wohnung, entledigte sich ihrer Kleider, verzichtete auf die Zähneputzerei, es wird schon mal in Ordnung sein, wickelte sich in das frisch bezogene Bett und hatte es warm, während er, so dachte er, betrunken auf der Straße stehend, seinen langen Weg durch die Kälte antrat.
    Er steckte sich eine Zigarette an, zog zwei Mal, dann schmiss er sie weg. Elendige Raucherei. Das Problem mit den Zigaretten ist doch einfach, dass man sie in den seltensten Fällen genießt. Das war ihm oben, auf dem unbequemen Stuhl und vor dem überquellenden Aschenbecher, schon aufgefallen. Wenn man jede Zigarette voller Aufmerksamkeit in die Lungen ziehen würde, würde man den Quatsch ganz schnell sein lassen. Kurz überlegte er daher, die Zigarettenschachtel ebenfalls wegzuschmeißen, aber dann entschied er sich dagegen. Der Weg war noch lang.

Auf seinem Marsch zum Bahnhof hielt er sein Taschenmesser in der Hand – eng umschlossen und verdeckt in der Manteltasche. Es war keine gute Gegend und er wollte sich im Notfall verteidigen können. Er hätte niemals jemanden abstechen können, die Klinge in einen Körper rammen, oder in ein Bein, es sei denn vielleicht, es wäre absolut unabdingbar, unvermeidbar, um jemanden zu schützen, während der Apokalypse, oder um sich gegen ein paar marodierende Faschisten zur Wehr zu setzen. Das Messer bot ihm schlichtweg Sicherheit – eine kleine wehtuende Unterstützung für jemanden, der kein Kämpfer war. Zumindest im physischen Sinne.
    Das Messer war ein Andenken aus einem vergangenen Urlaub, ein schweres Klappmesser mit dickem hölzernem Griff. Ja, der Holzgriff in der geschlossenen Faust würde Jemandem, der Ärger machen wollen würde, schon vom Gegenteil überzeugen. Vor allem, wenn er ihn mit der Wucht eines Betrunkenen ins Gesicht bekäme. Das würde mehr als ausreichen. Und ja, das war wirklich keine gute Gegend, und er dachte nochmals an die junge blonde Frau, die diese Straßen offenbar allein auf dem Rad entlanggefahren war, in tiefster Nacht. Aber vielleicht hatte sie es auch nicht weit gehabt. Besser ist es jedenfalls aufzupassen. Und aufmerksam zu sein. Dann braucht man auch keine Angst vor bösen Überraschungen zu haben.

Er kam am Bahnhof an und bestellte sich bei McDonalds zwei Burger mit Pommes und ein Wasser. Es schmeckte ihm nicht, aber er aß trotzdem alles auf. Das gehört sich so. Wegschmeißen ist Verschwendung und Verschwendung gibt es mehr als genug. Ebenso wie es mehr als genug Leute gibt, die nichts zu essen haben. Also stopfte er sich den ganzen Fraß hinein, bis zum letzten Bissen, obwohl seine Rezeptoren längst gegen das gesüßte Brötchen und die Heerscharen von Geschmacksverstärkern rebellierten.
    Um ihm herum saßen betrunkene Männer und Frauen an den Tischen, die, so wie er, aus den Vierteln der Stadt zum zentralen Bahnhof geströmt waren, um nun bald, mit ein wenig synthetischer Kost im Bauch, nach Hause zu fahren, um dort direkt in ihr Bett fallen zu können. Sie redeten, faselten, lallten, stritten, diskutierten und flirteten, ein allerletzter Versuch in der bald endenden Nacht, während sich alle denselben Fraß in den Mund schoben, heruntergespült mit Cola, Fanta, oder einem Milchshake. Die Augen übernächtigt und mit hängenden Lidern, kauten sie schmatzend mit offenen Mündern ihre Brötchen und Buletten, als seien sie selbst den traurigen Kühen, die sich nun zermahlen und zerwalzt zwischen den zwei weißen Scheiben in ihren Fingern befanden, gar nicht so unähnlich.

Als er aufstand und das Tablett in den Abräumwagen stellte, fühlte er sich schlecht. Und auf dem Weg über den Bahnhofsvorplatz zur Bushaltestelle noch schlechter. Die Burger und die Fritten in seinem Magen quollen auf und gährten durch die Hinzugabe des prickelnden Wassers zu etwas allem Anschein nach Bedrohlichem vor sich hin. Er machte sich eine Zigarette an, zog einmal und furzte. Ein Befreiungsschlag. Gut, dass er sie nicht weggeschmissen hatte.
    Als der Bus einfuhr, fingerte er mit seinen kalten Fingern nach der Fahrkarte, die sich irgendwo zwischen alten Kassenzetteln, Visitenkarten und diesen kleinen Notizen versteckt hatte, die einer jahrelang in seinem Portemonnaie mit sich herumträgt, weil er sich einfach nicht von ihnen trennen kann. „Das muss schneller gehen. Rein mit ihnen“, rief der Busfahrer, so von Eile getrieben als sei er Jetpilot bei der Bundeswehr – oder einer anderen nationalen Armee.

Im Bus sitzend schlief der Mann dank aufgedrehter Heizung, duseliger Trunkenheit und vollem Magen alsbald ein – mit der einen Hand um den Messergriff, mit der anderen, für ihn im Schlaf unmerklich, seinen Bauch massierend. Das Essen, welches eigentlich keines gewesen war, sondern eher eine Kategorie, eine Stufe in einem Diagramm essbarer Dinge von giftig über verträglich bis gesund, synthetisierte in seinem Bauch zu einem harten festen Ball, einem Konglomerat gefährlicher nährstoffloser Zellen, einem Tumor, der sich nun seinen Weg vom Magen durch das Darmgekröse bahnte. Ohne es zu merken, furzte der Mann noch einmal. Aber niemand bekam es mit. Denn der Großteil der Passagiere dieser Nacht war bereits ausgestiegen. Dorthin, wo der Mann hinfuhr, an das andere Ende der Stadt, fuhren die wenigsten um diese Uhrzeit. Es war ebenfalls keine gute Gegend. Und dazu noch heruntergekommen. Und so saß er alsbald alleine dort, im vorderen Bereich des Nachtexpresses, wo das Licht immer ausgeschaltet blieb, weil die Reflektionen den Fahrer beim Fahren blenden würden.

Ein abrupter Ruck riss ihn aus seinem verdauenden Alkoholschlaf. Es war die könnende Bremsung des Fahrers, die ihm mitteilte: Raus. Endstation. Feierabend. Keine Liebe, keine freundlichen Worte. Nur die knallhart durchgetretenen Bremsen eines 400 PS-starken modernen Gelenkbusses mit Hybridmotor sowie der schwere Fuß eines Busfahrers, der die letzte Runde gefahren war, und der jetzt schleunigst zum Betriebshof wollte, um von dort aus nach Hause zu fahren, um sich in das eheliche Bett zu schleichen und seiner Frau einen Finger in die Muschi zu schieben.
    Er war wach. Ohne sich umzuschauen stieg er aus dem Bus und stand in der Dunkelheit eines im Nebel liegenden REWE-Parkplatzes. Gegenüber befanden sich Busbahnhof, Bäcker, Metzger und ein kleiner Türkenkiosk, alles verschlossen, verrammelt, ohne Licht und Menschenseele. Der Anblick seines Dorfes an einem frühen Sonntagmorgen im Winter.
    Er konzentrierte sich auf seine Wahrnehmung, versuchte wieder etwas wacher zu werden, und griff nach den Zigaretten in seiner Brusttasche. Dabei ließ er das Messer außer Acht. Hier kannte er sich aus. Er steckte sich eine in den Mund, zündete sie an und ging los. Sie bekam ihm jetzt etwas besser. Drei Schritte später schmiss er sie dennoch weg. Es war wie mit dem Alkohol oder dem Meckes-Fraß. Irgendwas war da drin, was die Leute wollten, aber auch irgendetwas, was ihnen überhaupt nicht guttat.

Er ging über den Parkplatz und gelangte in einen laternenlosen Park. Bei Tag gab es dort immer eine kleine Grünfläche mit Spielplatz und Schotterwegen. Nun jedoch lag alles in mondbeschienener Dunkelheit. Ein schwarzes unbekanntes Meer. Diffuses Licht umfloss den Nebel und die dürren zerbrechlichen Nachtwolken, die wie schlierenhafter Zigarettenqualm in der Atmosphäre waberten. Als ob man sie wegpusten könnte, wegwedeln, abwinken, zerstören.
    Er ging durch den Park und inhalierte die frische Luft. Sein Magen grummelte und pochte. Er furzte noch einmal, aber es war eh keiner da, der mithörte, oder -roch. Er ging über den Schotterweg und kam auf die kleine Straße, neben der auf einer Anhöhe parallel die Autobahn verlief. Vereinzelt hörte er den Klang eines rasenden Autos hinter dem Lärmschutzwall, eines Autos, dass diese Ecke der Stadt nur passierte, an ihr vorbeifuhr, ohne sie zu bemerken, da alles diesseits der Autobahn tiefergelegen in der Dunkelheit lag, unter ihr, und in dieser Nacht sogar noch vom Nebel bedeckt.
    Er genoss die Stille, die gesprächslose Einsamkeit, und war froh bald zuhause zu sein. Viel zu lange war er unterwegs gewesen. Er hatte einen guten Abend verlebt, aber die letzten zwei drei Stunden waren auch irgendwie überflüssig gewesen. Jetzt war er müde und die Müdigkeit zog Kälte in seine Knochen. Wie kalt war es wohl mittlerweile? Vorhin am Bahnhof, was zeigte die Uhr? 0°C? Ja, das ist schon ganz schön kalt für jemanden, dem müde ist.
    Er ging weiter, unter einem Stoppschild hindurch, und bog links unter eine Brücke, über die die Autobahn führte. Dann hielt er plötzlich inne. Er blieb stehen und starrte für einige Sekunden einfach geradeaus. Dort, direkt vor ihm, saß ein Mann. Auf dem Boden. Allein. Bei 0°C. Und bewegte sich nicht.

Der Mann saß vor einer Bushaltestelle, am äußeren Rand des einzigen Lichtes, welches von der ebenso einzigen Lichtquelle unter der Brücke kam – einer Laterne, bis zur Decke reichend und wie der Mülleimer neben ihr grau und voller Taubenscheiße. Der Mann saß dort, ohne Regung, ohne Haltung, ohne jedwede Spur von Impulsivität. Leblos. Die Beine langgestreckt auf dem kalten dreckigen Asphalt, den Kopf hängend und den Oberkörper zusammengesackt wie ein Leistungssportler. Ein Sprinter, der verloren hatte, der zu langsam gewesen war, und der sich aufgegeben hatte, der sich hinter der Ziellinie auf den Boden gesetzt hatte, um sich einzugestehen, dass es vorbei war, und der nun ganz sicher nicht mehr aufstehen würde.
    Ein Schauer durchfuhr unseren sich auf dem Heimweg befindlichen Protagonisten. Hier gab es keine Leistungssportler, nicht in dieser Gegend, nein, und wenn, dann trainierten sie auch nicht für die üblichen Disziplinen.
    Er sah den Mann von hinten, im fahlen Lichtkegel der Laterne, in einer dünnen billigen Jacke mit Plastikdaunen verpackt. Er sah den schmalen Rücken und den in der Kapuze verborgenen Kopf, zwei Körperteile, die zu ungemütlichster Zeit und Stunde reglos in der dunklen Brückenflucht saßen, die mit ihren beschmierten Wänden das Trostloseste und Verlassenste darstellte, was die menschliche Architektur hervorzubringen hatte – Zweckdienlichkeit, in der sich selbst das Licht der einzigen vorhandenen Laterne scheute, mutig zu strahlen. Wer sitzt dort so, jetzt, und überhaupt, zwischen all dem Dreck und der Vogelscheiße? Es war wie im Dreamcatcher. Die tote Frau im Parka, die in den Wäldern plötzlich im Schnee auf der Straße sitzt, und der ein tödlicher Wurm aus einer fremden Welt aus dem Arschloch kriecht.

Der Mann ging näher heran. Wie Frost von seinem Mantel versuchte er die plötzlich aufgekommene Furcht abzuschütteln. Kälte spürte er nicht mehr, Trunkenheit und Müdigkeit ebenso wenig. Er war hellwach und ging auf den reglosen Körper zu, der dort in sich zusammengezogen vor sich hinvegetierte, wie eine abgestorbene Blume, die sich getraut hatte, im frühen Frühling zu sprießen, dann jedoch von hartem Frost übermannt wurde.
    Der Mann trat näher heran, das Taschenmesser im plötzlichen Eifer des Gefechts von ihm völlig unbeachtet in seiner Manteltasche baumelnd.
    „Hey. Ist alles in Ordnung?“ fragte er, in sich selbst jedoch bereits die Gewissheit tragend, dass bei diesem Mann gerade rein gar nichts in Ordnung war. Vorsichtig blieb er auf einem Meter Abstand, stellte sich neben ihn, beobachtete, schaute was passierte, ehe sich der Kopf unter der Kapuze langsam und zitternd zu ihm drehte. Doch aus dem Mund kamen keine Worte.
    „Was ist passiert“ fragte der Daherspazierte und ging einen weiteren kleinen Schritt auf ihn zu, langsam, sich dabei immer gewahr, dass er vorsichtig sein musste. Er erinnerte sich an eine Tatort-Folge, in der ein Obdachloser über eine Straße kroch, mit seiner Darstellung von körperlicher Schwäche und Hilflosigkeit einen ahnungslosen Passanten anlockte, und diesen, als er ihm aufhelfen wollte, wie ein reudiges Schwein mit schnellen wiederholten Messerstichen in den Bauch abstach. Dann erinnerte er sich an irgendeinen anderen Fall, eine Geschichte, in der ein Junkie mit seinem HIV-infizierten Blut rumschmierte und sich auf die Lippen biss und mit seinem blutigen Speichel spuckte, wie ein tollwütiger Wolf von Sinnen durch die Straßen laufend, wie ein Zombie. Schlagzeilen und Spukgeschichten schossen durch seinen Kopf. Schlimme Welt, noch schlimmeres Fernsehen, noch schlimmere Welt. Was war zuerst da? Das Huhn? Oder das Ei?

Der Mann blieb vorsichtig, die Augen jedes Detail aufnehmend, das das schwache Licht ihnen bot: Einen zerknickten Tetrapak Weißwein an der Bushaltestelle, direkt neben dem Sitz, ein Päckchen Ja!-Blättchen auf dem Boden, und eine kleine Tasche, nein, ein Rucksack.
    Die Kälte schoss unter der dunklen Brücke hindurch, hart und ungemütlich. Das groteske Betonkonstrukt schien den Wind wie ein schwarzes Loch anzuziehen, und dem Mann, der sich nun jenseits des Ereignishorizonts befand, war klar, dass der auf dem Boden Sitzende unterkühlt sein musste. Daher wägte der plötzlich in das Leben eines anderen Mithineingezogene die Eventualitäten ab, Uhrzeit versus Kälte, Körperwärme, Polizei und Krankenwagen. Dann blickte er nochmals auf den Tetrapak.
    „Was hast du zu dir genommen?“ fragte er. Da regte sich etwas in dem Mann.
    „Keine Drogen“ sagte er mit nuschelnder Stimme, während sein langsam schwankender Kopf weiter auf den Boden gerichtet blieb.
    „Hast du getrunken?“
    „Ein bißchen.“
    „Du musst aufstehen. Du kannst hier nicht sitzen bleiben.“
Aber da sagte der Mann bereits nichts mehr.

Der andere ging ein weiteres Stück auf ihn zu – nur einige wenige Zentimeter, um seinen Standpunkt zu verdeutlichen.
    „Ich lass dich hier nicht sitzen, hörst du? Das kannst du vergessen?“ Hin und her gerissen zwischen Vorsicht und dem tiefen inneren Wunsch dem Mann zu helfen, verharrte der Dahergelaufene für einige Sekunden in seiner Position und überlegte, ob er den anderen anfassen und ihm aufhelfen sollte, oder ob das vielleicht zu weit gehen würde, ob er sich dann angegriffen fühlen würde. Doch da regte sich der Mann bereits wieder von allein. Er drehte sich unbeholfen auf die Seite, so dass er auf dem Bauch lag, und brachte sich, über den kalten dreckigen Bordstein rutschend, auf alle Viere, auf Knie und Hände, bibbernd, zitternd, ehe er versuchte, sich mit seinen kaltgefrorenen steifen Gliedern aufzurichten. Die stockenden Bewegungen erinnerten an die eines vor dem Tod längst überfälligen Greises.
    Der andere wollte ihm helfen, ihm unter die Arme greifen, aber ein dicker blutiger Sabberfaden, zäh wie klebriges Gelee, ließ ihn innehalten. Er tropfte von der kaputten Unterlippe des Mannes, dessen Gesicht sich nun behäbig, wie in Zeitlupe, in den fahlen gelben Lichtkegel gedreht hatte. Die Lippen waren blau und eingerissen, das Gesicht müde und alt, die Augen ins Leere blickend, dunkel, schwarz, verlassen und allein. Ein kalter Schauder krabbelte dem anderen vom Nacken an die Wirbel hinab.

„Was ist passiert?“ fragte er, obwohl er bereits erkannt hatte, dass das alles nicht nach einer Schlägerei oder einem Überfall aussah. Sein Blick wanderte, suchte, und fand dennoch einen dicken roten Flatschen geronnenen Blutes, schaumig und mit Spucke versehen, der vor einem der Stühle an der Bushaltestelle vor sich hin gefror, unweit vom Tetrapak entfernt.
    „Hast du dir auf die Lippen gebissen?“ fragte er, gefolgt von kurzer Stille.
    „…auf die Lippen gebissen“, wiederholte der andere den Satz, nickend, dabei im Bärenstand stehend und gefährlich taumelnd wie ein wackeliges Kartenhaus, das über die zwei Karten niemals hinauskommen würde.
    Der andere stand daneben und sah zu. Er wollte ihm helfen, aber er konnte nicht so recht. Er konnte dem Mann nicht die Hand reichen, die mit dem Blut verschmierte, angegeiferte und aufgeplatzte. Er wollte ihn nicht anfassen. Aber er wollte ihn auch um nichts in der Welt allein lassen. Er wollte, dass er ins Warme kam. Mensch, ich wohne überhaupt nicht weit weg von hier, sagte er sich. Dort könntest du ausnüchtern, dich baden, waschen, ein paar gebratene Eier essen, einen heißen Kaffee trinken. Aber nein, sagte er sofort darauf zu seiner inneren Stimme, das geht so nicht. Denn noch während er nachdachte, voller Zweifel die gegebenen Möglichkeiten gegeneinander abwog, fing der andere Mann an, taumelnd und mit durchgestreckten Beinen stehend, etwas auf dem Boden zu suchen. Einem Schwarm Schnaken gleich, die, so scheint es häufig, suchend eine Wand entlangirren, tasteten sich seine unterkühlten Finger durch den dunklen Dreck auf dem mit Taubenscheiße zugeschissenen Bürgersteig.
    „Hey Mann, was suchst du?“ fragte der andere. „Sag mir, was du suchst.“ Aber die Finger irrten weiter sprachlos über den Asphalt als würde er eine Geschichte in Braille erzählen.
   „Suchst du deine Blättchen? Ist es das? Ja? Die sind da drüben.“
Der Mann hörte auf über den Boden zu nesteln und richtete sich auf wie ein Zombie, der Fleisch gerochen hatte. Er machte einen Schritt vor, dann einen zurück, dann wieder einen vor, das Gleichgewicht war ihm fremd in diesem Moment, und dann griff er, beinahe im Fallen, nach dem Oberarm des anderen, welcher nur kurz zuckte, den Arm aber nicht wegzog, und hielt sich fest, richtete sich auf, während die dreckige Hand sich in die Wolle krallte, und dabei wirkte es, als ob er genau diese eine Barriere nicht durchbrechen wollte, die der andere, ohne dass er es wusste, zeigte, diese magische Grenze der Distanz, die er besaß, die jeder besitzt, diese eine Grenze, die es nicht zu überschreiten gilt, weil sonst alles Vertrauen für immer verloren ist.
    Doch der Mann behielt die Fassung. Und der andere ebenfalls. Und so standen sie dort an diesem Morgen, in der klirrenden Kälte, im steifen Wind, der durch den Tunnel zog. Der eine hielt sich an dem anderen fest, stand zum ersten Mal seit Stunden, und der andere ließ ihn gewähren, war seine Stütze, denn er war froh, dass der Mann lebte.
    „Wo wohnst du“ fragte er ihn.
    „Ich kann nicht nach Hause.“
    „Warum nicht?“
    „Ich kann nicht nach Hause.“
    „Ich lass dich nicht hier in der Kälte.“
Stille.

Der Mann ließ los und taumelte einen Schritt zurück. Der andere ging schützend auf ihn zu, aber da fing der Betrunkene sich wieder, krallte sich an der mit schwarzem Stift beschmierten Wand der Bushaltestelle fest, im Becken zuckelnd wie bei einem Krampfanfall, wenngleich es die Kälte war, die den Mann bis ins Mark durchdrungen hatte und die Schuld an den asymmetrischen Konvulsionen trug.
    „Nimms mir nicht übel, okay, aber ich hole jetzt Hilfe“, sagte der andere. „Die bringen dich dann ins Warme. Dort kannst du dich ausschlafen, dir ein paar Tabletten gegen die Kopfschmerzen geben lassen, und am Morgen kriegst du ein anständiges Frühstück mit einer heißen Tasse Kaffee. Bleib hier stehen.“
    Der Mann in dem Mantel ging einige Meter weg und rief die Polizei. Ein Krankenwagen schien ihm nicht das Richtige, zumindest nicht ohne Beisein eines Polizisten. Rettungssanitäter waren, nun, waren eben Rettungssanitäter. Ganz brauchbar, wenn man sich einen Arm abgesägt hatte, oder einem eine Arterie im Kopf geplatzt war, aber im Umgang mit Betrunkenen waren sie so sehr Profis, wie ein notorischer Lügner ehrlich war. Das wusste er, da kannte er sich aus.
    Während er den Notruf wählte, sah der Mann die Silhouette des Betrunkenen wie einen schwarzen animierten Scherenschnitt unter der Brücke taumeln. Sein weißer Atem quoll nur noch schwach aus seinem Mund. Zu lange war er bereits draußen.
    „Polizeinotruf, 110, guten Abend, was kann ich für Sie tun.“ Die Stimme klang sehr jung, klang nach Ausbildung.
    „Guten Morgen. Ich habe hier an der Kreuzung Ecke Martinstraße einen Mann vorgefunden, stark betrunken, unterkühlt, aber ansprechbar.“
    „Wo genau sind sie? Das habe ich nicht ganz verstanden“, fragte die junge Stimme nach.
    „An der Kreuzung Ecke Martinstraße, Bochum, da ist eine Unterführung unter der Autobahn.“
    „Ich schaue nach … … … … alles klar. Ich schicke ihnen einen Wagen vorbei. Einen Krankenwagen schicke ich ebenfalls. Bleiben sie bitte vor Ort.“
    „Sicher. Vielen Dank.“

Der Mann ging zurück unter die Brücke, zu dem anderen, der sich wieder nach vorne gebeugt hatte und mit den Fingern über das Relief im Asphalt tastete, in der Dunkelheit, wo andere hinspuckten, pissten, ihr Essen sofort liegen ließen, wenn es hinfiel.
    „Lass das“, sagte er, der vor fünfzehn Minuten selbst noch betrunken im Bus geschlafen hatte. „Da ist nichts.“ Er sprach beruhigend, wie man zu einem Kind sprach, dessen imaginäre Geister man erfolgreich zu vertreiben hoffte.
    „Da ist nichts“, sagte er noch einmal und zum ersten Mal berührte er den Mann von sich aus, an der Schulter, ruhig und sanft, und gab ihm einen Impuls, damit er davon abließ.
    „Ich habe die Polizei angerufen“, sagte er. „Die kommen mit einem Krankenwagen. Und dann kommst du ins Warme. Du brauchst dir keine Sorgen machen. Ich bleib solange hier.“
Wieder kehrte Stille ein. Für Minuten standen die beiden dort. Zwei Welten, irgendwo in Ähnlichkeit vereint, irgendwo im Anderssein getrennt. Sie standen dort und die Minuten verstrichen, der eine taumelnd, der andere wachend. Dann fragte der Taumelnde:
    „Wo bleiben die denn?“, was den anderen beruhigte, da er nun wusste, dass er nicht nur sein eigenes Gewissen befriedigt, sondern auch dem Betrunkenen in dessen eigenen Augen etwas Gutes getan hatte. Denn nichts war schlimmer auf der Welt, als jemanden gegen seinen Willen irgendwo hinzuschicken, wo er nicht hin wollte.
    „Die sind gleich da“, sagte er. „Die sind gleich da.“ Und wie mit dem Stichwort herbeibeschworen, sah er das An- und Abschwellen des blauen Lichts an einer entfernten Hausfassade. Der Aufmarsch der Machtinstitutionen, der Kontrolle, der Fragen, des Blankziehens, aber auch, und das vor allem in diesem Fall, der Hilfe und der Unterstützung.

Der Betrunkene fing an sich zu bewegen, wurde unruhig, agitierte.
    „Bleib ganz ruhig, alles gut“, besänftigte ihn der andere. „Ich regel das. Ich erzähle denen alles. Du ruhst dich einfach nur eine Nacht aus, okay? Und wärmst dich wieder auf.“
    „Okay“, sagte der andere, undeutlich aber erkennbar, und nickte ein schwaches Nicken, mit gebeugtem Kopf, als ob er eine Schuld zugeben würde, als Form der Dankbarkeit.
    „Alles gut“, sagte der andere. „Alles gut.“

Und dann hielt der Rettungswagen, zeitgleich mit der Polizeistreife. Innerhalb von Sekunden verwandelte sich die dunkle Szene unter der Brücke in eine bunt leuchtende Kirmes mit sich bewegenden Lichtern und bunten Farben, und sogar einem Clown, der sich anschickte, aufzutreten.
    „Ja was haben wir denn da Feines?“ stieg ein großer blonder Rettungssanitäter sprechend von dem Tritt des Beifahrerplatzes auf die Straße. Der Mann in dem Mantel analysierte, sah das dumme grobgemeißelte Gesicht, und reagierte, übernahm die Kontrolle, wie er es versprochen hatte, und machte dem zweiten, dem jüngeren Sanitäter, eine Übergabe, sodass dem ersten keine Zeit mehr blieb, sich ein eigenes Bild zu machen.
    Dann kamen die beiden Polizistinnen auf den Mann zu, freundlich zugewandt, lächelnd, und fragten ihn, was passiert sei. Ihnen erzählte er dieselbe Geschichte. Dass er hier vorbeigekommen sei, auf dem Weg nach Hause, und dann den Mann schwer unterkühlt und intoxikiert vorgefunden habe. Dass der Mann sich artikulieren konnte, wenn auch schwer, dass er nicht nach Hause wollte, weil er dort nicht hinkönnte, warum auch immer, aber dass er kooperativ sei. Dass er es für das Beste hielt, wenn der Mann ins Warme käme und sich jemand um ihn kümmere.

Und während er ihnen die Geschichte erzählte, brachten die beiden Sanitäter den Mann ruhigen Schrittes in Richtung Krankenwagen. Auf dem Tritt sank der Betrunkene in die Knie, Körper und Verstand versagten, aber das war gut, das zeigte den Anwesenden, dass es ihm nicht gut ging. Die Sanis holten schließlich die Trage, mobilisierten den Mann darauf, und fuhren ihn in den Rettungswagen. Dann sahen die Polizistinnen das Blut, als sie die Tasche des Mannes und sein Portemonnaie auf der Suche nach einem Ausweis durchsuchten.
    „Blut?“
    „Ja. Er sagte, er habe sich auf die Lippen gebissen. Keine Schlägerei oder so.“
Eine der Polizistinnen, die größere, nickte als ob das gute Nachrichten waren. Waren sie auch.
Dann hörte der Dahergelaufene ein Rappeln auf der Liege und einen klirrenden Gurt. Er hörte, wie der Mann im Rettungswagen unruhig wurde und ging an die offene Rückseite.
    „Alles gut“, sagte er, „alles gut. Ich habe ihnen alles gesagt. Und deine Sachen sind auch hier“, sagte er. „Die kommen mit dir mit. Du brauchst dir keine Sorgen machen.“ Prompt beruhigte sich der Mann wieder, schloss die Augen und es schien als ob er in einen tiefen ruhigen Schlaf fiel.

„Werner Sieger“, sagte die Polizistin und gab den Namen über Funk durch. „1978 geboren. August, 28ster.“
   1978. Der Mann im Mantel überschlug das Datum. Nur acht Jahre älter als ich. Nur acht Jahre älter. Und er sah aus als sei er ein Greis.
    „Wir haben soweit alles“, sagte die Polizistin. „Gut, dass sie angerufen haben.“ Die Sanitäter schlossen die Tür vom Rettungswagen, stiegen ein und fuhren mit stillem Blaulicht in die Richtung eines Krankenhauses. Die Polizistinnen stiegen ebenfalls ein und fuhren ohne Blaulicht in die entgegengesetzte Richtung. Der ganze Auftritt hatte keine fünf Minuten gedauert.

Der Mann mit dem Wollmantel blieb allein unter der nun wieder dunklen Brücke zurück und dachte nach. Das Erlebte der letzten halben Stunde schoss durch seinen übermüdeten Kopf wie ein rappelnder Zug, der sich mit aller Gewalt bemerkbar machen wollte. 78 geboren. 41 Jahre alt. Nur 41 Jahre alt.
    Der Mann fing an, sich an die letzten Meter seines Heimwegs zu machen, doch bereits nach dem ersten Schritt hielt er inne und begann zu weinen. Ja, er war wirklich kein Kämpfer. Wie ein Sturzbach, wie das Wasser eines gebrochenen Damms schossen die Tränen aus seinen Augen und er fragte sich: Wie kann das sein? Wie verdammt nochmal kann so etwas sein?
    Der Alkohol und die Emotionen. Es dauerte Minuten bis er sich beruhigte. Kein Auto fuhr an ihm vorbei in dieser Zeit, kein Fußgänger passierte ihn. Nur über ihm, auf der Autobahn, raste alle paar Sekunden ein Fahrzeug hinweg, eilig und hastend, unwissend darüber, was beinahe unter ihm passiert wäre. Wie kann so etwas passieren, fragte sich der Mann. Und während er sich mit dem einen Ärmel die Tränen aus dem Gesicht wischte, fühlte er mit der anderen Hand das Messer in seiner Tasche. Und begann zu lächeln. Nicht eine Sekunde hatte er daran gedacht. Nicht eine Sekunde. Alles nur Geschichten, sagte er leise. Alles nur Geschichten. Nichts war passiert. Rein gar nichts. Außer, dass jemand anders es jetzt warm hatte. Und dass dieser am Morgen ein Frühstück und einen heißen Kaffee bekommen würde. Vielleicht ein schöner Tag für ihn. Vielleicht ein schöner Tag für ihn. Und ja, er war wirklich kein Kämpfer.
Und das war auch gut so.

Die Farbe Braun

Ein Text mit dem Namen: Die Farbe Braun. Das Bild zeigt eine braune Häuserwand in Görlitz.

Gedanken zur Landtagswahl in Thüringen – und der erste Beitrag der Textgewalten-Kolumne.

Lesedauer: 10 – 12 Min.


Die Landtagswahlen vor sieben Tagen haben es mal wieder gezeigt. Die AfD erhält Zuspruch. Im Grunde kein Problem, wenn sie nicht die wären, als die sie sich des Öfteren offenbart haben. Doch warum wählt ein Viertel der Bürger Thüringens die AfD? Und vor allem: Warum greifen immer mehr jüngere Wähler zum braunen Filzstift?

Nun, wir waren tatsächlich nie in Thüringen – bis auf ein paar Ausflüge zu Zeiten unserer Grundschule. Aber wir waren vor kurzem in Sachsen. Genauer gesagt: In Görlitz. Wie es dort zu einem Großteil aussieht, seht ihr oben. Urbaner Friedhofskult. An jeder Ecke. Schön zu fotografieren, schön anzuschauen, günstig zu mieten.

Doch dort leben? Wohnen und arbeiten? Wenn man nicht gerade ein digitaler Nomade ist, scheint das auf den ersten Blick schwer. Denn bis auf den prachtvollen historischen Stadtkern und ein paar schöne kleine Lädchen gibt es in Görlitz für Außenstehende erstmal nicht viel. Wo in anderen Städten das Leben wie arterielles Blut durch die Adern bollert – beruflich wie auch kulturell – scheint Görlitz eher unter einer Thrombose zu leiden. Vor allem im Vergleich zu Städten, in denen das punkig-ruinöse für schnieke Tanzbuden, Kunst, Kultur und Austausch genutzt wird.

Görlitz wirkte trist, verlassen, im Stich gelassen.

Ausschließlich Braun, bitte

Auch die Politik gab sich bei unserem Besuchswochenende eher bedrückend und einseitig: So war auf dem Marktplatz ein großer Stand der AfD aufgebaut – und zwar ausschließlich der AfD. Umgeben von einem Pulk von Security, fand sich dort sogar die adrette Führersdame Alice Weidel ein – über das Pflasterstein-Parkett schnurrend, wie eine der Kittler-Katzen im Führerbunker. Sie war Zuhause, das spürte man. Aufgrund dieser heimatlichen Gemütlichkeit wirkte die Konstellation jedoch weniger wie ein Akt des Wahlkampfes als wie ein privater Gang-Bang. Fünf muskelbepackte Männer, eine Blondine, literweise braunes Sperma. Ein Sinnbild für jeden, der es sich wünscht, unterdrückt zu werden.

Auf einer Bank saßen ein paar angetrunkene und mit krakeligen Tattoos versehene Männer, die dem AfD-Stand, oder dem Gang-Bang, mit braunen Pullen in der Hand offenkundig Zuspruch gaben. Und die anwesende Polizei beleidigten: „Unter Hitler würde es euch ganz schön an den Kragen gehen, ihr Wichser“ war in etwa der Wortlaut. Sonst waren nicht viele Menschen da, die eine vielversprechende politische Haltung verkörperten. Bis auf einen Mann. Einen Lehrer.

Er verteilte mit seinen alternativ gekleideten Schülern Plastiktüten an die über den Marktplatz spazierenden Mitmenschen. „Zum Überziehen über die Schuhe, damit ihr mit euren sauberen Schuhen nicht in die braune Scheiße tretet.“ Das einzige Interesse jedoch, dass dem Mann und seinen Schülern in dem Moment unserer Anwesenheit zu Teil wurde, kam von einem Passanten, der sagte, dass dies nicht gerade umweltfreundlich sei. Ein weiterer Kommentar kam von der Polizeistreife, die ihm mitteilte, dass er die kleine Versammlung hätte anmelden müssen. Plötzlich bekamen wir Lust, mit den Asis auf der Bank zu sitzen und aus der braunen Pulle zu süppeln, um uns in den Angriffsmodus zu saufen. Nein, ist natürlich nur Spaß. Auch wenn es zum Heulen ist.

Im Knochenreich der Venusfliegenfalle

Wir verließen den Marktplatz alsbald und kamen am Abend beim Essen in ein Gespräch mit einer Ur-Sächsin – fünfzig Jahre alt und mit Job in einer guten alten deutschen Sparkasse (Ihr wisst schon, diese Halsabschneider mit den unanständigen Gebühren). Die Frau hatte zwei erwachsene Kinder, einer in Ausbildung, eine am studieren, zwei große Häuser, drei Autos, und eine bauernhofgroße Wiese hinter dem dörflichen Anwesen, auf der man ein ostdeutsches Woodstock der Liebe und Anerkennung stattfinden lassen könnte. Doch statt Spaß und coolen Leuten gab es auf dem Riesenacker nur endlos viel dahinvegetierenden Krempel. Abermals trist, verlassen und – im Stich gelassen.

Der Abend war eigentlich ganz nett, aber als das Gespräch auf eine Mitarbeiterin dieser Dame fiel, eine Syrerin, schwank plötzlich ihr Ton um. „Der würd ich am liebsten ins Gesicht schießen“, war eine der Aussagen, die sie von sich gab.

Man könnte jetzt sagen, das klingt irgendwie wie „den Hals umdrehen“, oder so. Tat es aber nicht. Es klang schnodderig, wütend, aggressiv, und: brutal.

Es bestand auch kein Zusammenhang zu der Arbeit, die die Frau aus Syrien verrichtete. Sie arbeitete offenbar zufriedenstellend und legte dasselbe Drohnenverhalten an den Tag wie der gute deutsche Einheitsbürger auch. Daher ließ sich die Aussage „ins Gesicht schießen“ ausschließlich mit der fremden Herkunft der Dame in Verbindung bringen. „Ins Gesicht schießen“ und fremde Kultur ging auch noch. Und „Ins Gesicht schießen“ bei dunklem Haar und braunen Augen sowieso. Die Frau mochte keine Einwanderer dunklerer Couleur. „Sie kommen hierhin, obwohl sie hier nichts zu suchen haben, diese…“

Dabei fand sich in dem Dörfsken nicht ein einziger auch nur andersausschauender Gast. Nur blondierte Bauersjungen und -mädels. Verrückt, oder? Deswegen buchte die Dame auch nur Urlaub in Ländern, in denen braune Haut und dunkles Haar ein wenig seltener anzutreffen sind: Schweden zum Beispiel.

Später fing die Dame schließlich an, Halbwahrheiten zu erzählen, Geschichten von ganz offensichtlichen Fake-News, billigen Blognachrichten, über Social Media verbreitet und ohne jedwede valide Quellenangabe. Halbherzige Photoshoppings, die zu journalistischen Wahrheiten emporgehoben worden waren. Pseudonachrichten, bei deren Nacherzählung sie sich alle Mühe gab, uns auf ihre Seite zu bekommen.

Zwei Auszüge: „Die Fernsehsender bringen die doch alle mit, die Faschisten. Das sind keine echten. Das sind Statisten, um vom Wesentlichen abzulenken. Die echten Neonazis sind überhaupt nicht gewalttätig. Die Medien reden die schlecht.“

Und:

„Die sollen wieder zurück nach Aleppo. Die fahren doch sogar zum Urlaub dahin zurück. Dann können die doch gleich dortbleiben.“

Genau. Zum Urlaub.

Nach Aleppo.

Propaganda, Gleichschaltung und andere Wiederholungstäter

Wir beendeten das Gespräch dann irgendwann. Es hatte keinen Sinn. Seit einem halben Jahrhundert lief die Alte auf Gleichstrom, glaubte den Scheiß ihrer ideologischen Enklave. Da kann man nicht einfach umlöten und auf Wechselstrom schalten. Und das funktioniert genauso wenig bei jüngeren Leuten, die in dieser Umgebung aufwachsen. Da ist jahrelange, kontinuierliche Aufklärung von Nöten. Und die Vermittlung der Fähigkeit, sich selbstständig glaubwürdige Information verschaffen zu können. Eine Aufgabe, die einige in den letzten Jahren zu erfüllen versäumt haben. Und die nun in die Röhre schauen, sich immer noch wundernd, wie es zu so einem Ergebnis kommen konnte.

Am nächsten Tag fuhren wir zurück. Wir saßen im Zug und blickten über die Felder von Sachsen. Die Sonne schien. Ein schöner Tag. Gegenüber schlug ein älterer Mann eine Tageszeitung auf. Ein jüngerer daneben schaute auf sein Handy und scrollte mit dem Finger durchs Web. Von hinten hörten wir den dumpfen Klang eines Kopfhörers klingen. Schlagwörter wie Propaganda und Gleichschaltung hallten durch unseren Kopf. Propaganda und Gleichschaltung. Propaganda und Gleichschaltung. Propaganda und Gleichschaltung. Alte Begriffe, die nichts an Gültigkeit verloren haben. Propaganda und Gleichschaltung.

Ist es so schwer, sich für die Wahrheit zu entscheiden?

Dann hallten Materialismus und Armut durch unseren Kopf, während die Felder weiter an uns vorbeirauschten und wir uns der pulsierenden Metropole Dresdens näherten. Materialismus und Armut. Materialismus und Armut. Materialismus und Armut. Wenn das die Ursachen für unsere Ängste und Sorgen sind, haben wir dann nicht alle ein ganz anderes Problem? Und zwar alle dasselbe?

Und sollte uns das nicht alles ziemlich bekannt vorkommen?

Höhlen 02

Eine Erzählung mit dem Namen: Höhlen 02. Das Bild zeigt eine Spinne, lauernd in der Dunkelheit ihrer Höhle.

Eine neue Erzählung über die Eigenarten diverser Großstädter in ihren Fortbewegungsmitteln …

Lesedauer: 8 – 10 Min.


Ein Mann geht die Rolltreppen hinunter, auf dem Weg zum Vorstellungsgespräch. Stell sich das einer vor – fremde Stadt, fremder Bahnhof, fremde Tunnel. Alles neu. Und dennoch geht er die metallenen Stufen, die am Anfang und am Ende der Treppe mit scharfen Reißzähnen wie Tetris-Würfel ineinandergreifen, hinunter wie er es immer tut – ohne sich von ihnen tragen zu lassen.

Er geht Stufe für Stufe, ohne stehen zu bleiben, in seinem Tempo, eher gemütlich als gehetzt. Seine Augen sind wach und offen. Links herum, ja da ist sein Weg. Und Zeit ist genug. Also auch Zeit für einen Rundumblick. Es sieht ein wenig anders aus hier als zuhause, altbackener, backsteinoresker. Schon im Zug war ihm aufgefallen, dass ein Großteil der Stadt Ähnlichkeit mit dem gängigen Stil deutscher Arbeitsämter hat: Wenn überhaupt, dann praktisch. Dies aber auch nur im Katastrophenfall. Hübsch? Keineswegs. Trotzdem findet das Gespräch dort statt. Einer kann sich eben nicht immer alles aussuchen, auch wenn er das überall zu hören bekommt. Träume. Und so scharwenzelt der Mann in Richtung einer wartenden unterirdischen Bahn, welche die seine zu sein scheint. Doch Unsicherheit ist es, die mit ihm die klapprigen Stufen in das Innere der Bahn erklimmt. Denn er hat zwar Zeit, aber so viel nun auch nicht, dass er sich verfahren dürfte. Das Gespräch ist wichtig. Da wäre es schon gut, ein wenig überpünktlich zu sein.

Wo steht in dieser verkackten Stadt, was für eine Bahn das ist? Das Gleis ist richtig, aber ist es auch die richtige Bahn? Sie ist alt und lang und hat nicht die Displays an den Seiten, wie sie moderne Bahnen haben. Ihre Farbe ist ein in ein Braun übergehendes Gelb. Und sie hat dunkelrote Ledersitze. Leder. Sowas gibt es in seiner Stadt schon lange nicht mehr. Der Mann möchte jemanden fragen, aber die Aufnahme von Blickkontakt ist komplizierter geworden – heutzutage sieht einer nur noch haarige Hinter- und Oberköpfe. Alle blicken auf ihren Schoß, oder auf ihre Geschlechtsteile, diese selbstverliebten schwanz- und mösenfixierten Geier. Nein, natürlich blicken sie auf ihre Handys. Und da rattert auch schon die Tür zu. Scheiße.

„Hallo?“ fragt er ziellos in den Gang. „Hallo?“ Aber nichts passiert. Der Mann geht rückwärts den Gang entlang, versucht ein Gesicht zu erhaschen. Doch nichts. Dann sieht er es in ihren Ohren: Kopfhörer. Überall. Ätzend. Er könnte am unterirdischen Bahnsteig stehen, eine Frau vergewaltigen, sie in den Arsch ficken, dass das Blut nur so aus der Rosette spritzt, und keiner würde etwas merken. Dann könnte er sich die nächste Frau schnappen – und noch eine und noch eine. Bis zum Betriebsschluß in 14 Stunden könnte er Rosetten knacken wie Walnüsse an Weihnachten. Dann könnte er sich die Männer vornehmen. Wenn ihm dann langweilig werden würde, könnte er Kinder entführen, oder besser noch: sie verprügeln und verdreschen, weil sie so laut sind, wenn sie in Bündeln in die Bahnen strömen. Totschlagen könnte er sie sogar, eines nach dem anderen, ihnen dann ihre ganzen Smartphones und Turnschuhe abluchsen und bei Ebay viel Geld damit machen. Kinder wachsen schließlich schnell. Akkurates Modewerk zum guten Preis ist daher gut gefragt. Hach, welch ein Paradies für den ohne Moral. Er könnte alte Damen mit ihren Handtaschentrageriemen erwürgen – so lange, bis ihre trockenen dehydrierten Zungen weit über ihre beflaumten Unterkiefer hinaushängen würden. Dann könnte er zu ihnen nach Hause gehen, ihre Renten kassieren, mietfrei wohnen, ein Leben lang. Hach, was alles so plötzlich möglich scheint, in einer unterirdischen Haltestelle. Vergewaltigung, Mord, Raub. Die bösartige Dreifaltigkeit.

In der Steinzeit musste man aufmerksam sein. Sonst gabs mit der Keule. Oder ein dreißig Zentimeter langes Insekt, dessen Stachel klugerweise wie ein getarnter Halm der Waldmeisterpflanze aus dem Busch hervorlugte, stach einen, und das Gift sorgte dafür, dass einem die haarigen Eier zu ödematösen Melonen anschwollen, ehe schließlich kleine bissige Maden aus der Harnröhre krochen, die wiederum, nachdem ihnen Beine gewachsen waren, in das Arschloch krabbelten und … Ja, man musste ganz schön aufpassen. Überall gefährliches Getier, und zahnlose Kontrahenten, die der eigenen Braut an die Schenkel wollten. Dazu die wilden Jahreszeiten zwischen Blizzard und Dürre. Gefährliches Pflaster.

Heutzutage hingegen scheint es nicht so gefährlich. Alles geht gesittet zu, ist aufgeräumt. Jeder Schlüpfer findet seine entsprechende IKEA-Schublade. Doch übersieht der moderne Mensch bei all der in Schönheit und Prunk getünchten Sinnlosigkeit wie ihm geschehen könnte. Er ist abgelenkt. Das Teuflische daran: Ablenkung ist immer erst im Nachhinein erkennbar, nach der Gefahr. Ohne Gefahr besteht schließlich kein Grund zur Besorgnis. Wie bei einem getarnten Insekt.

Der Mann jedoch kann sich darüber nicht so die Gedanken machen. Es fällt ihm zwar auf, dass etwas nicht ganz stimmig ist, in seiner Umwelt, aber er muss sich schließlich immer vergewissern, dass er in der richtigen Bahn ist, und geht daher, sichtlich schlecht gelaunt, da er mal wieder gezwungen wird, sich in den Dreck zu hocken, in die Knie – und nimmt sprachlichen Kontakt zu einer Frau auf. Der darauffolgende Blick in ihrem Gesicht gleicht in etwa dem Anblick eines getrockneten Fensterleders – etwas steif, eher unbrauchbar. Wie als wenn eine bodenständige Zahnarzthelferin mit Rechnungsdruck in einer Weiterbildung sitzt und der Dozent ausschweifend über das poststrukturalistische Rhizommodell von Gattari und Deleuze doziert: offene Augen, offener Mund, keiner da. Umso erstaunlicher daher die Antwort der Frau auf die Frage, ob dies die Bahn nach Duisburg sei, welche unser Protagonist aufgrund der erwähnten Ähnlichkeit ihres Gesichtsausdruckes zu einem Fensterleder in der ihm rudimentärsten Sprache formuliert: „Duisburg?“

Subjekt, Prädikat und Objekt sind ausgelöscht. Ziel bedeutet das neue Paradigma der Satzkonstruktion. Und es birgt erfolgsversprechende Ergebnisse: Denn die Frau antwortet mit: „Ja.“ Zwar klingt es als hätte sie nach Jahren des Komas und Sabberns ihr erstes Wort gesagt, doch das Problem ist gelöst. Die Bahn ist die richtige. Der Kopf der Frau sinkt wieder hinab. Kein Grund mehr, die Gesprächssituation weiter aufrecht zu erhalten. Dem Mann jedoch ist es in diesem Moment egal. Seine Transpiration stoppt. Eine weitere unnötige Beunruhigung im wilden modernen Dschungel neigt sich dem Ende zu. Der Puls entschleunigt. So lange der Wagen läuft, läuft er. Alles gut.

Der Protagonist setzt sich, bereitet sich vor, auf seine Vorstellung, schaut aus dem Fenster hinaus in den dunklen Tunnel. Seine Augen folgen nystagtisch den vorbeirauschenden Fugen des unterirdischen Mauerwerks. Ein Reflex so schnell wie der eines gefährlichen Tiers. Willentlich unmöglich durchzuführen. Dann wird die Bahn wieder langsamer, das Ruckeln und Schleifen leiser, sie fährt in die nächste unterirdische Haltestelle ein. Die sich beruhigenden Augen des Mannes fallen auf eine schwarze Halbkugel, tennisballgroß. Sie ist an der Decke und schaut wie das Facettenauge eines Insekts, ja eines Reptils im 360°-Winkel herab. Eine Kamera. Ein übergroßes Auge, unmenschlich, aber effektiv, und es passt auf alles auf. Der Protagonist schaudert, und das schwarze Auge registriert. Dann vibriert etwas. Eine Ablenkung. Und er senkt seinen Kopf und vergisst.

Wir alle haben es so gewollt.

Interessanterweise.

Interessanterweise bin ich.
Und interessanterweise mag ich, wer ich bin.
Ist das schlimm?
Denn offenbar –
kommen nicht alle mit mir klar. Interessanterweise.
Dabei bin ich einfach nur, wie ich bin:
Interessant, manche sagen sogar weise.

Für manch andere jedoch bin ich nichts.
Daher bin ich oftmals leise.
Und unterstreich das Wörtchen „nichts“ damit –
auf interessante Weise.
Ich frag mich dann und bin ganz still:
Mag ich wirklich, wer ich bin?
Und bin ich, wie ich mich will?

Doch dann fang ich laut zu lachen an, sage: „Dummer Hund.“
Denn das ist alles bloß mein Kopf –
der erzählt mir gerade Schund.
Und wie aus dem Nichts, auf interessante Weise,
sind dann meist die anderen –
mucksmäuschenstill und leise.

Ich grins dann fröhlichst vor mich hin,
mag mich wieder, wie ich bin.
Und interessanterweise,
macht mich dies auf interessante Weise,
nicht nur durchaus interessant –
sondern auch interessiert und weise.