Interessanterweise.

Interessanterweise bin ich.
Und interessanterweise mag ich, wer ich bin.
Ist das schlimm?
Denn offenbar –
kommen nicht alle mit mir klar. Interessanterweise.
Dabei bin ich einfach nur, wie ich bin:
Interessant, manche sagen sogar weise.

Für manch andere jedoch bin ich nichts.
Daher bin ich oftmals leise.
Und unterstreich das Wörtchen „nichts“ damit –
auf interessante Weise.
Ich frag mich dann und bin ganz still:
Mag ich wirklich, wer ich bin?
Und bin ich, wie ich mich will?

Doch dann fang ich laut zu lachen an, sage: „Dummer Hund.“
Denn das ist alles bloß mein Kopf –
der erzählt mir gerade Schund.
Und wie aus dem Nichts, auf interessante Weise,
sind dann meist die anderen –
mucksmäuschenstill und leise.

Ich grins dann fröhlichst vor mich hin,
mag mich wieder, wie ich bin.
Und interessanterweise,
macht mich dies auf interessante Weise,
nicht nur durchaus interessant –
sondern auch interessiert und weise.

Steak

Manchmal mach ich mir ein Steak.
Und wenn es dann da so liegt, dann denk ich:
Du bist ja genauso wie ich.
Außen etwas härter, innen ganz weich.

Und wenn ich dann das Blut seh,
dann weiß ich,
dass auch in etwas Totem
noch ein wenig Leben ist.

Pergament und Staub

Uhrenticken.
Klicken eines Metronoms.
Tage fallen wie Laub.

Brodeln in der Lunge,
schneller Herzensschlag,
Pergament und Staub.

Eine Schwester, die nach Kippen riecht –
Pflichtfernsehprogramm.
Sechs Enkel und drei Kinder,
alle wollen mal ran.

Einmal drücken, etwas sagen.
Eine Klärung, letzte Fragen.
Graue Augen voller Tränen,
bis sie alle alsbald gehen.

Uhrenticken.
Klicken eines Metronoms.
Tage fallen wie Laub.

Husten in der Lunge,
schwacher Herzensschlag,
Pergament und Staub.

Nur sie bleibt dort, ganz allein –
betrachtet ihre Hände.
Geht in Gedanken durch Jahrzehnte,
geht durch Wände bis ans Ende.

Klein und zart und fahl und fleckig.
Das letzte Lachen: Laut und dreckig.
Sie schließt die Augen, unausweichlich –
ohne Tränen, die gabs schon reichlich.

Uhrenticken.
Klicken eines Metronoms.
Tage fallen wie Laub.

Brodeln in der Lunge,
letzter Herzensschlag,
Pergament und Staub.

Den Mut verlieren

Bloß nicht den Mut verlieren,
wenn alles knackt und rumpelt.

Bloß nicht den Mut verlieren,
wenn Sehnen knarzen, Zähne nagen,
das Boot im Winde schunkelt.

Bloß nicht den Mut verlieren,
bei all den Mauern, all den Scherben.
Und bloß nicht den Mut verlieren,
wenn die ersten Freunde sterben.

Bloß nicht den Mut verlieren,
bloß nicht den Mut verlieren …

Wer hat das wohl gesagt? Ein Einarmiger?

Ein Einarmiger, der mit beiden Händen das Leben hantiert?
Ein Keinbeiniger, der ohne Füße am Boden regiert?

Bloß nicht den Mut verlieren,
bloß nicht den Mut verlieren –
leichter gesagt als getan.

Bloß nicht den Mut verlieren,
doch irgendwas ist da auch dran.

Irgendwann da kommt dein Deckel,
und Fremde schminken dein Gesicht.
Der letzte Schein der Hoffnung trügt –
es ist der vom roten Grabeslicht.

Bloß nicht den Mut verlieren,
bloß nicht den Mut verlieren –
ja, leichter gesagt als getan.

Doch machen kannst dann gar nichts mehr,
nicht mal blöde gucken.
Drum gib Vollgas, geh auf Risiko,
fang an, lass endlich jucken.

Bloß nicht den Mut verlieren,
bloß nicht den Mut verlieren –
Oh ja, da ist was dran.

Bloß nicht den Mut verlieren,
bloß nicht den Mut verlieren –

und vor allem nicht den Mut dens braucht –
den Mut, um zu verlieren.

Das Ende trägt die Last

Eine Erzählung mit dem Namen: Das Ende trägt die Last. Das Bild zeigt eine Brücke unter der Obdachlose leben.

Eine Erzählung über einen Mann in einer Bahn, der einen anderen aus dem Haifischbecken der zur Arbeit Pendelnden retten muss.

Lesedauer: 10 – 15 Min.


Es ist früh am Morgen. Der schwindende Herbst lässt sich noch an einigen der vereinzelt verteilten Baumkronen in der Stadtmitte erkennen – wandelnde Farben: rot und orange und gelb und braun. Sie sind nur für kurze Zeit vorhanden, denn die bunten Blätter fallen Tag für Tag immer mehr den aufkeimenden Winden zum Opfer, die jetzt, da es allmählich kälter wird, auch durch die Schluchten der Stadt zwischen Beton, Glas und Leuchtreklamen ziehen. Im Sommer, wenn die Sonne lange am Himmel steht, scheint sich die Wärme der Stadt ewig zu halten. Wie Lithium-Ionen-Akkus speichern die großen verspiegelten Fassaden die Energie der Sonne, und wie ein Handy, das bereits bei 25% schon wieder an die Steckdose kommt, können auch die Häuserwände ihre Wärme in den Sommernächten nicht vollends entladen. Denn morgens um sechs kriecht langsam und behände schon wieder die heiße Sonne über den Horizont empor.

Aber im Winter ist es anders. Wenn die kalte Jahreszeit vom arktischblauen Himmel hinabatmet und den eisigen, ätherisch-belebenden Atem durch die Straßen schickt, dann werden die Steine kalt. Und kälter. Der Frost setzt sich nieder und kreiert neblige Schwaden vor dem Mund. Beim Rennen tut das Atmen in den Lungen weh, und die Menschen schützen sich vor der Kälte, indem sie Mäntel und Schals tragen und ihre Pläten mit Baskennützen verdecken. Sie wärmen sich mit einem Tee, einem heißen Kakao oder einem Kaffee, und würden am liebsten im warmen Zuhause im Bett liegen. Aber sie können nicht. Sie müssen arbeiten, und daher bewegen sie sich – trotz Kälte – in ihren gewohnten Bahnen. Zumindest sofern dies ihnen erlaubt ist.

Ich gehe durch den hell erleuchteten Bahnhof, Stell- und Angelpunkt der ganzen verschiedenen Gesichter – übernächtigte, genervte, gestresste und hetzende. Aber auch lachende, verliebte, und freudige. All die, die am frühen Morgen pendeln müssen – von ihrem Heimatort zu ihrer Arbeit. Von ihrer Geliebten zu ihrer Frau, von ihrer Frau zu ihrer Geliebten. Oder zu einer bekackten Weiterbildung – vom Arbeitsamt gesponsort. Was auch immer. Die Leute bewegen sich, sie sind unterwegs. Derweil kündigen Durchsagen zwischen knackenden Tönen den pünktlichen Menschen verspätete Züge an, während verspätete Menschen zu den pünktlich einfahrenden Zügen die Treppen hinaufhetzen. Es riecht nach Kaffee und Brot und zwischendurch in einer dunklen Ecke an den Schließfächern auch mal nach Kotze und Urin. Der Geruch eines Hauptbahnhofs an einem Wochentag.

Mein Zug kommt um Punkt 7:55 Uhr. Ich habe ein wichtiges Meeting in der Rheinstadt Nummer Eins. Eine Firma will sich intern neu aufstellen – also marketingmäßig. Neuer Auftritt. Alles soll ein wenig moderner werden. Ganz kreativ. Viel Geld ist dabei, da bin ich dann natürlich auch dabei, sagt mein Chef. Von dem Geld sehe ich aber nichts.

Ich hole mir beim Fischmann noch einen heißen Kaffee und grinse – darüber erfreut, dass mein Zug keine Verspätung hat – behindert vor mich hin. Gemütlich gehe ich die Treppe hinauf, zu meiner Linie, welche sonst eigentlich sehr anfällig für Verspätungen ist. Ich freue mich darüber, über diese Entspanntheit, denn entspannt sein ist wichtig. Und das Meeting, naja, das ist ebenfalls wichtig. Zumindest für den Kunden und für meinen Chef. Für mich, nun, mein Chef ist eben mein Chef. Und der will, dass ich da bin. Also Spesen, Lunch und Kaffee beim Kunden – und zwei, drei Überstunden. Gar kein so schlechter Deal eigentlich. Denn Überstunden bedeuten, dass man sich an einem Freitag in nicht allzu ferner Zukunft mal eher verpissen kann.

Ich stehe oben am Gleis und ziehe den Schal über meinen Mund. Der Kaffee dampft aus dem Pappbecher und die Sonne geht am Horizont in der Kerfte zwischen zwei Hügeln auf – wie ein glänzender Funke zwischen zwei riesigen Arschbacken – vor dem Hintergrund eines dunkelblauen Nachthimmels. Vater Frost bläst derweil über das grau-rot bemalte Gleis als würde er eine Rodelbahn herbeizaubern wollen. Und ich genieße diese unerwartete Ruhe, die dieser frostige Morgen mit sich bringt. Denn die verspäteten Züge der letzten Stunde, die vor einigen Minuten ein- und danach wieder ausfuhren, haben all die Menschen mitgenommen, die jetzt gleich in meinem Zug sitzen würden. Das bedeutet für mich, dass ich einen Sitzplatz bekommen werde. Und das ist gut. Jedenfalls besser, als 90 Minuten in einem vollbesetzten Zug im Gang neben der Toilette zu stehen und die haarspraygetünchte Dauerwelle der gegenüberstehenden Frau zwischen den Zähnen zu haben, während man doch eigentlich noch so schön im Bett liegen könnte.

Während ich so am Bahnsteig warte kommt eine Durchsage, begonnen von einem kurzen Knacken und einer weiblichen Stimme, die erst in das Mikro hustet und dann sagt: „Sehr verehrte Fahrgäste. Die Regionalbahn über Bochum, Essen, Duisburg und Köln nach Aachen hat voraussichtlich eine Verspätung von ca. 20 Minuten. Wir bitten Sie, dies zu entschuldigen.“ Dann wieder ein Husten, gefolgt von einem Knacken, und das wars. Mehr nicht. Und in dem Moment, wo das finale Knacken aus den vom Bahngleisdach hängenden Lautsprechern ertönt, erscheint auf dem Display plötzlich in daherlaufender Schrift: „Zug fällt aus. Wir bitten um Entschuldigung. Zug fällt aus. Wir bitten um Entschuldigung. Zug fällt aus. Wir bitten um Entschuldigung.“ Wie aus dem nichts. Vor zwanzig Sekunden, einer Minute vor Ankunft, noch pünktlich, dann zwanzig Sekunden später, 40 Sekunden vor Ankunft: 20 Minuten Verspätung und jetzt, 20 Sekunden vor Ankunft: Zug fällt aus.

Ich schaue in Richtung des Horizonts, dort wo die Sonne dem Stern Betlehems gleich zwischen der städtischen Arschrille langsam emporsteigt und versuche den Zug auszumachen. Aber ich sehe nichts. Müsste ich ihn nicht eigentlich erkennen können, bei einem solch späten Ausfall? Klar müsste ich. Er müsste fackelnd mit lodernden Flammen langsam in den morgendlichen Bahnhof einrollen, dann könnte ich die späte Absage verstehen. Aber so? Nichts. Nur ein leeres Gleis mitsamt Oberleitungen, das bis weit in den Horizont hineinführt und meine Stadt mit einer anderen verbindet. Wie eine Narbe, die von Muttermal zu Muttermal geht. Oder eine gigantische Zahnspange. Komische Metapher, ich weiß.

Ich nehme einen Schluck Kaffee, schaue mich um, entdecke ein junges Mädchen am Gleis ­– neben mir die so ziemlich einzige Person – und schaue wieder auf das Display. Die Anzeige des Zuges ist weg. Keine Spur mehr von ihm. Als hätte er nie existiert. Aber alles gut. Halbe Stunde Puffer ist eingeplant. 29 Minuten bleiben. Geh ich eben im Zug scheißen, kein Problem. Und der Kaffee ist noch heiß. Perfekt.

Am gegenüberliegenden Gleis steht ein ICE, Richtung Aachen. Und einige Meter weiter stehen zwei Zugbegleiter in einer offenen Tür und unterhalten sich. Ich gehe zu Ihnen hin. Die Zugbegleiter der ICEs haben meist den entsprechenden Durchblick, den so eine Situation wie meine verlangt – besser als jede App und jedes Bahnhofsdisplay. Außerdem lässt sich so ein ICE meist zuschlagsfrei nutzen, wenn der eigene Zug ausfällt. Daher ist mein Appell an die Bahnbediensteten nicht nur rein investigativer Natur.

„Guten Tag zusammen“, spreche ich die beiden Zugbegleiter an. Der, der sich mir zuerst zuwendet, ist ein Mann, mit kurz geschorenem Haar und dunkelbrauner Haut, vielleicht Türke. Die andere ist eine Frau, Mitte Fünfzig, mit beginnendem Graustich in der Kurzhaarfrisur.
„Guten Tag der Herr“, antwortet der Mann namens Herr Bogdan mit einem Lächeln. Sein Name funkelt dabei als Gravur von dem goldenen Namensschild über seiner linken Brust. Sein Walkie Talkie rauscht und knackt, wie die Durchsage aus den Gleislautsprechern. Die Bahn bräuchte langsam wirklich mal eine Modernisierung.
„Mein Zug ist soeben ausgefallen“ sage ich. „Und ich muss nach Köln.“
„Und sie möchten mitfahren?“
„Ganz genau“, sage ich.
Der Mann redet kurz mit seiner Kollegin und er erwähnt einen Zahlencode. Sie lacht, ein Insider offenbar. Mir schwant, als ginge es dabei um die Urlaubsplanung, oder um einen Vorgesetzten. Dann wendet sich der Mann namens Herr Bogdan wieder mir zu.
„Kein Problem“, sagt er. „Steigen sie ein.“

Ich bin überrascht. Mit einer so einfachen Lösung der Situation hatte ich nicht gerechnet.
„Aber sie müssen sich ein wenig gedulden“, schiebt er nach. „Es gibt eine Stellwerkstörung am Gleis. Das kann etwas dauern.“
„Ist überhaupt kein Problem“ sage ich, und will gerade einsteigen, als Herr Bogdans Funkgerät, welches eher wie ein älteres Schnurlostelefon aussieht, abermals knackt. Er hält es sich ans Ohr und dreht dem beißend kalten Wind den Rücken zu. Daher höre ich vom anderen Ende der Leitung nicht den geringsten Ton. Herr Bogdans Hand jedoch signalisiert mir: Warten Sie bitte.

Nach ein paar Sekunden nimmt er den ominösen Funktelefonhybriden vom Ohr. „Es gibt ein Problem“ berichtet er.
„Was für ein Problem?“
„Nun, offenbar dauert die Stellwerkstörung doch etwas länger. Wir fahren daher einen Umweg. Soll heißen: Wir fahren zurück nach Dortmund und von dort aus über Düsseldorf nach Köln.“
„Aber sie fahren jetzt direkt los?“ frage ich ihn.
„Ja, in zwei, drei Minuten.“
„Na dann ist mir der Umweg egal. So bin ich immer noch am schnellsten unterwegs.“
„Das stimmt wohl“ sagt Herr Bogdan, lächelt, und öffnet mir die elektrische Tür. Die Zugbegleiterin lächelt ebenfalls – und beide wünschen mir eine gute Fahrt.

Im ICE ist es ruhig. Der blaue Teppich dämpft die Schritte der Reisenden wie ein wattierter Fuß. Ich nehme das erste Abteil, direkt neben der Toilette, und breite mich mit meinem Krempel auf sechs leeren Sitzen aus. Mantel dort, Sweater dort, Schal dort, Rucksack dort, alles bekommt sein Plätzchen. Heute ein König. Fehlt eigentlich nur das passende Pils aus der Werbung. Aber zu solch früher Stunde trinke ich in den seltensten Fällen. Wenngleich es den Kaffee äußerst gut ersetzen würde. Hach, es hätte mich wirklich schlimmer treffen können, denke ich. Viel schlimmer. Die Zugbegleiterin kommt schließlich an meinem Abteil vorbei, wünscht mir nochmals eine gute Fahrt und fragt, ob ich sonst noch etwas benötige. Ich spiele kurz mit dem Gedanken mir ein Bier zu bestellen, verwerfe den Gedanken jedoch in Anbetracht des Meetings wieder. „Nein“, sage ich. Dann geht sie weiter.

Über den Gang höre ich immer noch Herr Bogdan, wie er in der geöffneten Tür steht und weiteren Passagieren, die den Mitfahrbraten gerochen haben und nun herüberstreunen, die Problematik mit dem Stellwerkproblem erläutert. Immer und immer wieder. Jedem dieselbe Geschichte. Sein Tonfall ist freundlich, jedes Mal. Und er bietet jedem Einzelnen an, ihn mit nach Dortmund zunehmen, oder sogar weiter, bis nach Düsseldorf – oder Köln. Und sie alle nehmen dankend an, an diesem kalten Wintermorgen. Ein Fahrgast nach dem Anderen. Sie passieren mein Abteil, wandern mit gedämpftem Schritt an den anderen Ruhezonen vorbei und verteilen sich irgendwo weiter in der Mitte des Waggons auf den Gangplätzen.

Ich packe ein paar Nüsse aus dem Rucksack – Proviant für den modernen Überlebenskünstler, den Städtependler – und mach mich ein wenig lang, strecke die Beine aus. Aufrecht sitzen muss ich später schließlich noch genug beim Kunden. Ich höre, wie Herr Bogdan an der Tür die letzten Fahrgäste abfertigt – und wie sie erleichtert die kostenlose Mitfahrt in Deutschlands Edelzugklasse wahrnehmen. Die Mitfahrt nach Dortmund, zum passenden Umstieg. Dann trippelt der letzte Passagier an meinem Abteil vorbei, und ich, immer noch alleine, höre wie Herr Bogdan mit einem Pfeifenpfiff die Abfahrt signalisiert. Dann schließt er die Tür. Und der Zug fährt an. Langsam zieht der Bahnsteig an meinem Fenster vorbei. Ich schaue auf die Uhr und denke: Geil, fast besser als nach Plan. Denn im Regionalexpress hätte ich jetzt stehen müssen. Hier jedoch steht nur einer: Herr Bogdan, der Held meines Tages. Der Held meines Tages, dessen komisches Hybridtelefon wieder knackt, direkt auf dem Gang, und direkt neben meinem Abteil.

„Was gibt’s?“ fragt er die Person am anderen Ende. Dann eine kurze Pause. Und wieder ein Knacken. „Das ist jetzt nicht dein Ernst oder?“ Und dann wieder ein Knacken. Gefolgt von einem kräftig-gefluchten „Scheiße verdammt!“ Direkt aus Herr Bogdans Mund.

Der Zug rollt ganz langsam weiter, Meter für Meter, ist dabei immer noch im Bahnhof, als eine Durchsage kommt: „Sehr geehrte Fahrgäste. Wir möchten Sie hiermit informieren, dass dieser Zug nicht in Dortmund hält. Wir wiederholen: Dieser Zug hält nicht in Dortmund. Wir fahren einige Kilometer zurück, und fahren dann ab einem anderen Stellwerk ohne Zwischenhalt nach Düsseldorf und weiter nach Köln. Wir bitten sie, dies zu entschuldigen.“

Als die Durchsage endet, verlässt der Zug langsam das Bahnhofsgelände. Und ich höre Schritte. Die stampfenden Schritte, deren wütender Klang selbst der dunkelblaue Teppich im ICE nicht verbergen kann. Die Schritte wütender Mitbürger, die sich beschweren wollen. Ich stehe auf und trete auf den Gang, und da eilt der erste Mensch bereits an mir vorbei. Ein blonder Mann mit brauner Lederaktentasche und blauer Sportjacke. Er geht so schnell, dass ihm seine Ledertasche auf dem Gang mehrfach von der Schulter rutscht und er sie wieder hochziehen muss.

„Sie …“, flucht er Herr Bogdan mit wütender Stimme an. „Sie haben mir gesagt dieser Zug hält in Dortmund. Ich möchte ihren Namen und ihre Dienstnummer haben.“
Namen und Dienstnummer, denke ich. Was ein Mongo.
„Jetzt beruhigen sie …“
„Ich beruhige mich nicht“, unterbricht der Mann Herr Bogdan. „Sie haben mir gesagt der Zug hält in Dortmund, und ICH – MÖCHTE – JETZT – IHRE -DIENSTNUMMER – HABEN. Ich lass mich doch nicht verarschen.“
Herr Bogdan seufzt leise, und versucht, die Beherrschung nicht zu verlieren.
„Mein Name ist Herr Bogdan“, sagt er. „Und wie ist ihrer?“
„Was interessiert sie mein Name?“
„Na, ich werde doch wissen dürfen gegen wen ich mich zu verteidigen habe.“
„Mein Name tut hier nichts zur Sache. Sie haben mir gesagt, dass der Zug in Dortmund hält, und …“­­
„Und was?“ mische ich mich in das Gespräch ein. „Der Herr hat die Information, ebenso wie sie, gerade erst bekommen. Ich habe es gehört. Der Herr kann da nichts für. Wenn Sie wollen, können sie sich meinen Namen direkt mit aufschreiben.“
Der Mann schaut mich an, dann Herr Bogdan. Dann wieder mich, und dann nochmals Herr Bogdan. Zwischendurch wirft mir der Zugbegleiter ein kurzes dankbares Lächeln zu. Doch hinter mir stapft schon die nächste Person den blauen Industrieteppich hinunter. Eine Frau rempelt mich von hinten an. Eine Frau in schwarzer Jeans, schwarzer Lederjacke und mit schwarzer Ledertasche. Auch sie richtet mehrfach ihre Tasche zurecht.

„Da sind sie ja“, sagt sie. „Sie habe ich gesucht.“
„Sie können doch, ..  sie sind doch gerade erst eingestie …“ will Herr Bogdan einlenken, um ihr klar zumachen, dass sie ihn in der Zeit unmöglich gesucht haben kann, aber er hat keine Chance.
„Sie haben mir doch gesagt der Zug hält in Dortmund“, unterbricht sie seine Äußerung. „Ich möchte gerne ihren Namen wissen.“

Herr Bogdan atmet tief durch die Nase aus. Seine Schultern hängen, so dass ihm das Kontrollgerät für die Fahrkarten beinahe von der Schulter rutsch und er es hochziehen muss. Wie wir doch alle manchmal irgendwie gleich aussehen, denke ich. Auch wenn wir auf anderen Seiten stehen. Herr Bogdans Stirn glänzt, und das bei gefühlt minus 5 Grad Außentemperatur. Sein Gesichtsausdruck ist der eines Mannes, der bereits zwölf Stunden gearbeitet hat und nicht der von Jemandem, dessen Schicht soeben erst begonnen hat.

„Sein Name ist Herr Bogdan“ sage ich. „Aber das wird ihnen nichts nutzen. Denn er wusste nichts davon“
Die Frau mit der Lederjacke dreht sich zu mir um, schaut mich an. Aber nur für einen kurzen grimmigen Moment, ehe sie sich wieder Herrn Bogdan zuwendet. Ich schaue ihr kurz auf den Arsch, und im Folgenden wandert mein Blick für den Bruchteil einer Nanosekunde aus dem Fenster. Wir haben etwas Fahrt aufgenommen und im Osten, im Schein der aufgehenden Sonne, erscheint der Tower des Bahnhofs. Irgendein Arschloch, denke ich. Irgendein Arschloch sitzt da oben, gemütlich, mit einem heißen Tässchen Kaffee auf dem Tisch, Buchse offen, Hand am Sack, Heizung an, und reitet den armen Mann hier in die Scheiße. Das Ende trägt die Last, denke ich. Und als mein Blick zurück über den Arsch der Frau wieder in das Geschehen schwenkt, fängt das lasttragende Ende gerade an sich zu rechtfertigen.

„Mein Name ist Herr Bogdan …“, sagt Herr Bogdan, von Berufswegen her Zugbegleiter, als drei weitere Personen hinter mir den Gang hinunterstapfen – wie wütende Stiere auf einem festgefrorenen morgendlichen Acker. „… und es tut mir wirklich sehr leid, aber ich habe die Information auch eben erst bekommen. Gerade als der Zug angefahren ist.“

„Das ist richtig. Kann ich nur bestätigen“ mische ich mich wieder ein. Denn das tue ich gerne: mich einmischen. Doch die Frau ignoriert mich weiterhin – scheinbar tut sie DAS gerne. Der Mann jedoch beruhigt sich allmählich.
„Und wo können wir dann umsteigen?“ fragt er.
„Frühestens in Düsseldorf. Ab Düsseldorf halten wir dann so wie vorgesehen.“
„Ach so, in Düsseldorf halten wir?“
„Ja, sagte die Durchsage ja gerade“, fügt Herr Bogdan hintenan.
Der Mann nickt, vermutlich ein Zeichen seines Danks, und wendet sich ab.

„Aber ich wollte nach Essen“, sagt die Frau.
„Wir auch“ sagen zwei herantrabende Männer.
„Ja aber um Essen ging es hier nie“ sagen Herr Bogdan und ich auf eine Art und Weise parallel, dass man uns für Synchronschwimmer halten könnte. Und die Leute gucken verwirrt.
„Das ist richtig,“ schiebt Herr Bogdan dann nach. Und langsam beruhigt sich die Lage – in Anbetracht der eigenen Dummheit der Zugestiegenen. Und natürlich, weil scheinbar niemand wirklich nach Dortmund will. Schade eigentlich – die haben ein wundervolles Ghetto da. Da gibt es erstklassigen Fisch. Aber gut. Der angekündigte Halt in Düsseldorf scheint die anderen Fahrgäste befriedigt zu haben – jedenfalls bis auf die paar Pfeifen, die hier gerad stampfend den Flur runtergejagt sind, auf der Suche nach Herr Bogdan.

Ich denke nochmals an den imaginären Mann im Tower. Ein Typ, zwei Sekunden Schlaf, und jemand anders wird vollends der Tag ruiniert. Ein Ochse passt nicht auf, und die anderen Bullen, die den Karren ziehen, können nicht mehr zeitig anhalten und fallen die Klippe runter. Wenngleich das auf Herr Bogdan heute nicht zutrifft. Denn heute, nun, Herr Bogdan lächelt mich an. Er lächelt mir freundlich zu, während die anderen Fahrgäste langsam kehrt machen und ebenso langsam begreifen, dass sie zwangsläufig bis Düsseldorf fahren müssen – über Dortmund und ohne Halt – und das Herr Bogdan daran auch nichts ändern können wird. In keinster Art und Weise.

„Danke“ sagt er schließlich leise zu mir, ohne dass es jemand hört. Dabei klopft er mir einmal vorsichtig auf die Schulter, und wischt sich danach mit einem Taschentuch über die verschwitzte Stirn.
„Das hätte ganz anders kommen können.“
„Ich weiß“, sage ich. „Das Ende trägt immer die Last. Deswegen sitze ich in diesem Zug.“
„Guter Spruch“, antwortet er, „wenn auch etwas traurig.“
„Ist ironischerweise von meinem Chef“ sage ich. Und Herr Bogdan lässt ein Lächeln vom Stapel, das uns kurzzeitig zu Brüdern vereint, bevor er weiter seinem Job nachgeht – so wie ich.

Ich schaue schließlich aus dem Fenster, auf die Gleise, die so schnell vorüberziehen, dass die einzelnen Stahlschwellen zwischen ihnen nicht mehr zu erkennen sind. Eine verschwommene Masse, die jedoch so viel an Gewicht und Kräften halten kann – und in die rechten Bahnen lenkt. Das Ende trägt die Last, denke ich, und das ist richtig. Und ohne das Ende wäre nur Chaos. Gleise ohne befestigende Bestandteile, Pommes ohne Mayo, Krankenhäuser ohne Krankenschwestern, Berge voller Plastiksäcke in den Seitengassen der städtischen Strassen – schmutzige Flure und Treppen. Alles würde verkommen. Das Ende trägt die Last. Und das war schon immer so. Leider wird der Ast zum Ende hin immer dünner. Das liegt in der Natur der Sache. Daher gibt es nur eine Möglichkeit, die Last abzufangen: Zusammenhalten. Stell sich einer vor, was wäre, wenn eine Milliarde Menschen mal einen Tag lang nicht einkaufen gehen würden. Wenn sie mal einen Tag, jeder für sich, aber doch alle zusammen, nicht fünf Euro für einen überteuerten scheiß Filterkaffee ausgeben würden? Eine Milliarde Menschen, die einfach zu Hause bleiben würden, Fernseher aus, Handy aus, und nichts tun würden. Die dem Chef sagen würden: Geh und fick dich selbst. Nur für einen Tag. Sich nicht in die überfüllten Züge quetschen, aus denen die Menschen nur noch so rausperlen, wenn die pneumatischen Türen aufgehen. Nicht acht Stunden auf dem Boden für einen Hungerlohn rumkriechen und den Dreck anderer Leute wegmachen. Eine Milliarde Menschen, die sich nicht gegen den Einzelnen am Ende der Nahrungskette richten, sondern gegen jemanden, der wirklich was zu sagen hat. Das wäre doch was. Den Hammer der Selbstbestimmung greifen und richtig auf die dampfende Scheiße der Unterjochung hauen. Nicht akzeptieren. Ansage machen. Allgegenwärtige Darstellungen ins Gegenteil verkehren. Die da oben würden sich ganz schön wundern, wenn Sie ihren Scheiß alleine machen müssten ­– oder plötzlich auf ihrem ganzen Krempel sitzen bleiben würden, den sie durch ihre plattformübergreifenden 24/7 Marketing-Attacken an Mann, Frau, Kind und Divers bringen wollen: Teuer angebotene Plastikschuhe, deren Sohlen Abfallprodukte der Kunststoffproduktion auf irgendeiner Insel im Pazifik sind.  Medikamente, die als Heilmittel verkauft werden, aber eigentlich nur die negative Nebenwirkung eines anderen Medikaments aufheben, und leider in der Kumulation mit den Weichmachern aus dem Polyethylen-Schlüpfer für Hoden sorgen, die wie Rosinen aussehen. Chemische Mittelchen mit diagnostizierter Wirkung zur Tittenvergrößerung oder Fettverbrennung. Shampoo für Haarwachstum mit X/Y-Chromosomen. Hach ja. Und trotzdem rennen sich die Leute am Black Friday lieber über den Haufen – für ein paar BHs aus billigem Polyester und eine Spielekonsole, von der das bessere Modell mit anständiger Leistung längst Top-Secret in den Startlöchern der Produzenten liegt – für den nächsten Black Friday, zum besten Kurs. Dabei fällt der Preis in den Tagen auf den „Angebotswahnsinn“ ohnehin um die am Konsumfeiertag sermongleich heruntergebeteten Prozente. Aber man muss eben auch aufmerksam sein. Man muss den leeren Zug sehen, wenn er neben einem steht. Wenn man dann zusammenhält, dann kann auch einer aus der letzten Reihe kostenlos in der ersten Klasse fahren.

Der Kötel

Eine Kurzgeschichte mit dem Namen: Der Kötel. Das Bild zeigt einen Fernseher und einen Autoreifen, dahinvegetierend im Gebüsch.

Eine Kurzgeschichte über die Konfrontation mit einer liebenswürdigen Mitbürgerin – und dem Exkrement ihres Hundes … 

Lesedauer: 10 – 15 Min.


Der Kötel war nicht größer als eine Haselnuss. Und so wie der kleine Yorkshire Terrier gepresst hatte auch nicht wesentlich unhärter. Ich ging gerade ­­– unter noch dunkelblauem, frühmorgendlichem Himmel – die Straße zur Bahn hinunter, als ich den kleinen grauhaarigen Stinker sah, wie er seinen Gutenmorgendiamanten zitternd durch die dreckigen Arschhaare presste. Sein dickes Frauchen hielt fein kontrollierend die Leine, und kramte bereits raschelnd in der schwarzen Kunstlederhandtasche nach dem Kackebeutel, um das morgendliche Stuhlensemble, das nicht mehr als ein kleiner Nugget war, auf nachhaltige Art und Weise entsorgen zu können.

Bis wir jedoch zum Kern der Geschichte kommen – meine Einmischung in die wahrhaft umweltschonende Hundefäkalien-Entsorgungsmaßnahme dieser dicken Frau – kugelte der kleine Kötel erstmal frisch gepresst einige Zentimeter auf dem Asphalt hin und her – was vielleicht auch ein frühmorgendliches Trugbild meiner Sinne hätte sein können – und blieb dann, beinahe unentdeckt, getarnt zwischen braunen Blättern, Buchecken und anderen Baum- und Zivilisationsresten liegen. Unscheinbar.

Der kleine Terrier, dem die Haare hipp, aber auch dümmlich naiv vor den Augen hingen, hörte sofort nach Beendigung seines morgendlichen Defäkations-Vorgangs mit dem Zittern auf und widmete sich wieder erleichtert und schwanzschüttelnd dem Aufschnüffeln von weiblichen Pissefährten. Viel mehr kann so ein überzüchteter Sofahund ja eigentlich auch nicht. Und auch wenn er süß ist: Richtig scheissen kann er eigentlich auch nicht. Trotzdem hielt sein Frauchen plötzlich einen Plastikbeutel in der Hand, mit dem ein Überlebender in jeder erdenklichen apokalyptischen Situation ein Notsignal zum Rettungshubschrauber hätte geben können. Leuchtendes Violett, und groß wie ein Mumien-Schlafsack für Erwachsene. Wollte sie den kleinen haselnussgroßen Knicker wirklich in diesen Riesenbeutel verfrachten? Das fragte ich mich, als sich ihr dicker Körper schwerfällig bückend nach dem Kötel streckte – den Arm bis zur Schulter in dem riesigen, mit kleinen Knochenornamenten bedruckten Plastiksack verborgen.

„Sagen sie mal, für den kleinen Knicker brauchen sie doch wirklich keinen Beutel, oder?“ sprach ich sie an. Der Beutel raschelte wie ein gigantischer Lenkdrachen an der stürmischen Nordsee, als sie sich mir hockend, aber leicht unbeholfen, mit den Unterarmen auf ihren dicken Beinen abstützend, zuwandte.
„Na doch. Ich möchte ja auch nicht in so etwas hineintreten“, sagte sie, während ihre Leggings ein gefährliches Knatschen von sich gab, von irgendwo zwischen ihren Schenkeln her.

Ein sozialer und ehrenwerter Gedanke, sagte ich zu mir selbst, mit Blick auf meine neuen Sneaker. Und da ich mir nur alle fünf Jahre mal ein neues Paar gönnte eigentlich von Vorteil für mich. Aber als mein Blick auf den Boden fiel, konnte ich den Kötel beileibe nicht mehr ausmachen. Er hatte sich versteckt. Wie lustig wäre es, dachte ich, wenn sie wirklich eine Haselnuss einpacken würde. Oder eine Buchecker. Aber so weit sollte es natürlich nicht kommen.

„Wissen sie“, sagte ich, „mal abgesehen davon, dass ich den Kackekiesel ohnehin nicht mehr erkennen kann – zwischen all dem Morast hier – finden sie denn nicht auch, dass die Tüte ein wenig groß ist für so einen kleinen Kötel wie den von ihrem Schmusehund?“
Die Frau schaute mich an. Und überlegte dann sichtlich, mit starrem Blick in den morgendlichen Himmel. Dabei taumelte sie leicht, immer noch hockend, auf den Zehenspitzen umher ­– gefährlich wankend, wie eine Boje auf stürmischer See.
„Ich mein, mit dem Beutel da können sie ja ein Segelboot bespannen“ sagte ich, und konnte nicht anders, als ihr in meiner morgendlichen Überheblichkeit ein Lächeln zuzuwerfen. Ein Lächeln, das sie nicht erwiderte.
„Das ist kein Schmusehund“, sagte sie stattdessen. Und wandte sich wieder ab. Sichtlich genervt.

Ich hätte es wissen müssen, dachte ich. Die Frau war ein Mensch, der sich nichts sagen ließ. Und ein Mensch, der Regeln befolgte – auf akkurateste Art und Weise. Zudem schwante mir, dass diese Frau diesen gewissen Charakterzug besaß, den manche Menschen an den Tag legen, wenn sie sich eigentlich mit Gleichgesinnten sympathisieren wollten. Solche Menschen, die Sachen sagen wie: „Diese Türken da drüben, diese Nachbarn, die immer diese komische Musik so laut ­haben – bis spät in die Nacht – schlimm sind die“, und die dann im Dialog eigentlich Dinge hören wollen wie: „Ja, wirklich schlimm wie laut diese Türken sind. Unsereiner würde nie so über die Stränge schlagen.“ Wenn einer selbst dann aber eine andere Meinung hat, multikulti gut findet und so, werden sie plötzlich feindselig. Ja, es sind immer die anderen. Und eine Regel ist eine Regel – egal wie dumm sie in manchen Momenten erscheinen mag. Hinterfragen? No Way. Scheiße verdammt, und dann stand auch noch Leitwolf auf dem kleinen Hundeleinen-Geschirr, umzeichnet von den Farben der deutschen Flagge. Ich hatte ja sowas von Recht.

Die Frau in der auf Hochspannung gestretchten Leggings dachte offenbar tatsächlich, dass sie, nur weil auf dem Kackebeutel von der Größe eines Seesacks ein grüner Punkt drauf war, etwas Gutes tut. Aber in dem Moment, als ich fast begann sauer zu werden, erkannte ich Gott sei Dank den Kötel wieder. Den Kötel, der stellvertretend für viele andere kleine Kötel stand, die wiederum stellvertretend für eine riesige Unmenge an Plastikmüll standen, die mir einfach sinnlos erschien. Schließlich muss so ein Frauchen seinen kleinen Köter ja auch nicht direkt auf dem Bordstein scheissen lassen, oder?
Und während dieser Brummer von Hundefanatikerin, immer noch hockend, so als würde sie gleich selbst scheißen, oh Gott bewahre, nach dem Schiss ihres Hundes suchte, begann ich in Gedanken abzuschweifen …

… denn eigentlich hätte sie mit dem Beutel gleich ein kleines Lebewesen ersticken können, dachte ich. Den bissigen kleinen Kampfköter von dem Fascho unten am Ende der Straße zum Beispiel. Dann wäre der Beutel wenigstens voll gewesen. So jedoch wird er irgendwann mit ganz viel wohligem Platz in seinem Innern durch die Ozeane dümpeln. Er wird einer kleinen putzigen Meeresschildkröte mit kleinen putzigen Kulleraugen begegnen, die dann nichtsahnend in diesen violetten Puffbeutel schwimmen wird. Oh, da sind aber viele kleine süße Knochen drauf. Da drin gibt es bestimmt viele tolle Snacks. Ja, das wird sie sich sagen, nachdem sie mutig ihr kleines Köpfchen aus dem schützenden Panzer gereckt hat. Durch die Knochensymbolik hinterhältig in die Todesfalle gelockt findet sie jedoch nur – als lächerliche Imitation einer Haselnuss getarnt – den morgendlichen Kötel eines Yorkshire Terriers aus Grevenbroich. All das, kurz bevor sich der violette Vorhang des Schildkrötenlebens für immer schließen und das kleine Tier langsam in der Dunkelheit des Ozeans bedecken wird, als sein immer fortwährendes Grevenbroicher Grabtuch aus unverwüstlichem Polyethylen.

Das durfte ich nicht zulassen!

„Sagen Sie …“, sprach ich die adrette Dame wieder an. „Was wäre denn, wenn sie den Hund einfach da, zwei drei Meter weiter, an diesem Gebüsch kacken ließen? Da zwischen Fernseher und Autoreifen. Das wäre doch gar nicht so umständlich, oder? Wäre doch cool, wenn sie so auf diesen Beutel verzichten könnten. Gibt ja schon genug Leute, denen es anscheinend scheißegal ist, was mit dem ganzen Müll passiert.“ Dabei zeigte ich auf die alte Röhrenglotze im Gebüsch. Doch die Frau schaute mich nur ungläubig mit offenstehendem Mund an.
„Sagen sie, was haben sie eigentlich für ein Problem?“ sagte sie, immer noch auf ihren Stempeln über dem Boden hockend, offenbar unfähig, den verlorenen gegangenen Hundeschiss wiederzuentdecken.
„Ja gar keins, ich finde es einfach nur nicht sinnvoll, was sie da tun. So einen Plastiksack für so einen …“
„Für so einen was?“ unterbrach sie mich. „Wissen sie eigentlich was es kostet, wenn das Ordnungsamt mich dabei erwischt, wie ich Hundekacke auf dem Bürgersteig liegen lasse?“
Ich sah ihr tief in die Augen. Da lag ein Autoreifen nebst Fernseher im Gebüsch und sie machte sich tatsächlich Sorgen um den Schiss von diesem kleinwüchsigen Köter. Und nein, natürlich wusste ich nicht was das kostet.

„Ich bitte sie“, sagte ich, „DAS – ist keine Hundekacke. Das ist, … ganz ehrlich, ich weiß nicht was das ist, aber …“  und in dem Moment bekam ich einen Einblick in ihre Handtasche:
Abermillionen von Hundekackebeuteln in unzähligen Farben taten sich dort vor mir auf. Manche der Beutel waren bedruckt mit Knochen, andere mit Herzchen und wiederum andere mit kleinen Hundewelpen. Und da wurde mir klar: Die Dame war, wie die Hexe mit ihrem Lebkuchenhaus in Gebrüder Grimms Hänsel und Gretel, eine Verführerin des Bösen.

„Meine Fresse. Sie schleppen da ja die reinste Zeltlandschaft mit sich rum. Da könnten tausend Dinosaurier reinscheissen“, sagte ich und musste komischerweise dabei lachen – vermutlich aus Hoffnungslosigkeit, oder aber, weil der mit den Dinosauriern echt gut war.
„Also von ihnen muss ich mir nun wirklich nichts erzählen lassen“, erwiderte sie. „Und schon gar nicht, wie ich den Kot meines Hundes zu entsorgen habe“. Dann wandte sie sich ab, sichtlich angefressen.
„Naja, sagte ich. „Sie könnten doch auch einfach, in Anbetracht der Größe dieses Kackoramas, einen Stock oder so nehmen, und den Kniggel da die paar Zentimeter rüber zum Busch purzeln. Oder ihn, hart wie er offenbar ist, mit dem Turnschuh rüberkicken.“
Dabei deutete ich an, ihn soft wegzuschießen.
„Würd‘ keiner merken.“
Sie schaute mich an. Entsetzen lag in ihrem Blick.
„Mit den Schuhen?“
„Ja, mit den Schuhen“, sagte ich. Und ich kickte nochmal lässig zur Demonstration mit dem rechten Bein.

„Sie sind doch ekelhaft.“
„Wieso ekelhaft?“
„Ja ganz einfach, … WEIL SIE EKELHAFT SIND. PUNKT.“
Und sie wand sich abermals ab. Es war hoffnungslos.

Ekelhaft, sagte sie. Dabei sind Hundeliebhaber doch die Schlimmsten von allen. Sitzen auf der Couch und kraulen ihren Kötern alle nur erdenklichen Stellen. Einige drücken ihren Hunden sogar auf der Analdrüse rum, wenn die da so eine Sekretverstopfung haben. Abartiger Scheiß. Aber den Hund dann noch nicht mal am Bein rammeln lassen. Ja ja, solche habe ich gern. Ich musste was tun. Und fing an, mit meinen Schuhen den Boden zu fegen …

„Ey, was tun sie da?“ fragte sie.
„Nichts, ich mach den Boden sauber“, sagte ich und fegte weiter. Schuhgröße 46 war ideal dafür.
„Lassen sie das“, sagte sie und versuchte, mich mit der kackebeutellosen Hand zur Ordnung zu rufen.
„Nichts da“, sagte ich. Und gab nicht auf.
Sie hatte keine Chance. Ich schob den ganzen Kladderadatsch an den Rand des Bürgersteigs, welcher hier, schräg unter der Autobahnunterführung, immer mehr zur Müllhalde verkam.
„Sehen sie, das sieht kein Mensch“, sagte ich. Doch sie blickte mich nur vollkommen entgeistert an.

„Sie sind verrückt“ sagte sie, und stemmte ihre dicken Ellenbogen auf ihre noch dickeren Oberschenkel, während sie versuchte, sich aus den Knien nach oben zudrücken. Doch es ging nicht. Sie war schon zu lange in der Hocke. Sie verlor das Gleichgewicht, und auf halber Höhe fiel sie nach hinten über. Ich wollte noch nach ihr greifen und sie auffangen, aber dabei wären mir vermutlich alle Bänder im Körper gerissen. Daher ließ ich sie fallen, so wie man als Holzfäller einen Baum fallen lässt. Es war ja keine große Höhe – und ihre Polsterung war gut. Dann hörte ich eine Art Pftssch, als sie mit ihrem pinken Windbreaker auf dem Rücken landete. Und ich ahnte das Schlimmste …

Auf dem Rückend liegend, zog sie plötzlich angewidert ihre Mundwinkel nach unten, und versuchte, nun selbst wie eine Schildkröte, die unglücklich auf dem Rücken gelandet war, wieder auf alle Viere zu kommen. Und als sie sich, von mir wegdrehend, auf die Knie begab, sah ich, was das matschige Geräusch ausgelöst hatte. Sie war in Scheiße gefallen. Frische, weiche Hundescheiße, die sich von uns unbemerkt im Schatten der Bushaltestelle befand. Und was für ein Schiss das war. Gigantoman. Und vermutlich sogar noch warm.

„Oh, wo kommt denn das jetzt plötzlich her?“ sagte ich, überrascht wie ich war.„Siiieeee, … „, sagte sie. „SIEEEEEEEE …“, doch es war bereits zu spät. Bevor sie richtig sauer werden konnte, fing sie bereits an sich zu ekeln und versuchte den dicken, offenbar wirklich noch warmen Schiss von ihrem Rücken fernzuhalten, indem sie ein Hohlkreuz machte und die Schultern nach hinten zog. Ihr kleiner Terrier sprang sie dabei an, kleffte freudig erregt umher, wollte an ihr riechen, bzw. an der frischen Scheiße.

„Sehen sie, dafür sind diese Beutel eigentlich gedacht“, sagte ich. „Hätten sie lieber diesen Schiss hier weggemacht.“ Und ich nickte zu ihrem rechten Arm, der immer noch bis zur Schulter in der mit kleinen Knochen gesprenkelten violetten Kacketüte steckte.
„Wenngleich man den natürlich auch – aus rein nachhaltiger Sicht – mit einem Papierbeutel oder einer Schüppe hätte …“ doch ihr Blick sagte mir, dass sie mich töten würde, wenn ich diesen Satz zu Ende aussprechen würde. Also hob ich entwaffnend die Hände. Immerhin war sie die, die in Scheiße gefallen war.„Die Reinigungskosten, die gehen auf ihre Kappe“, sagte sie, während sie schnaufend aufstand.
„Wieso denn das?“ fragte ich. „Sie sind doch umgekippt.“
„Weil sie, weil sie, … „, doch dann kam nichts mehr.

Sie wich von mir ab und ging – ihren fröhlich schwanzwedelnden Hund hinter sich herziehend – die Straße hoch. Mit einem gigantischen Scheißefleck auf dem Rücken. Doch ich war es, der als Verlierer aus der Sache herausging. Denn den Beutel streifte sie auf halber Höhe der Straße ab. Und stopfte ihn – unbenutzt wie er war – in einen blechernen Stadtmülleimer. Alles fürn Arsch, dachte ich. Doch leider nicht mal das.

Seele baumeln

Wenn ich durch die Strassen geh,
tut mir meine Seele weh.
Was ist das für eine Scheisse heute?
Ständig betteln –
nur die falschen Leute.

Gibst dich auf, legst dich hin,
und trotz allem:
Kein Verschnauf –
und auch kein Sinn.

Zahlen sollst du,
noch und nöcher.
In den Hosen:
Riesenlöcher.

Sammelst Flaschen,
räumst dabei auf,
kommts Ordnungsamt,
kriegst noch was drauf.

Drum klaust du dir ’nen Strick,
ganz schick.
Und hörst auf mit diesem Taumeln –

machst einen Knoten,
richtig dick,
und lässt die Seele –

nur noch baumeln.

Höhlen

Eine Erzählung mit dem Namen: Höhlen. Das Bild zeigt einen Teddybären, dreckig und zersaust auf einem Stromkasten bei Regen.

Eine Erzählung über die Eigenarten diverser Großstädter in ihren Fortbewegungsmitteln …

Lesedauer: 8 – 10 Min.


An manchen Tagen, unausgeschlafen nach unruhigen Nächten, sind die Sinne schärfer als sonst. Dazu gereizter, angespannter. Die Nerven stehen unter Strom, haben nicht mehr viel Spielraum, und sind zu jeder Sekunde kurz vor der Reizüberflutung. Dann geht es ganz schnell: Overshoot. Eine merkwürdige Todesanzeige in der Zeitung, getragen von Erinnerungen, und es wird direkt losgeheult. Eine falsche Dosierung Biers am Abend und einem wird – trotz diagnostizierter Trinkfestigkeit – sofort übel. Alles ist selbst in kleinen Dosen zu viel – nach solchen Nächten. Außer Schönes.
Der wärmende Sonnenstrahl im Gesicht, der einen küsst, wenn die U-Bahn-Rolltreppe ihr Ende nimmt und einen an der Oberfläche absetzt. Der kleine Handjob – in einer Kneipe – von einer betrunkenen Rothaarigen, die einen in der dunklen Ecke neben dem Zigarettenautomaten vernascht. Alles schöne Sachen. Schöne Sachen, die es nicht gibt, am frühen Morgen, ohne Sonnenschein, und ohne Rothaarige – in einer U-Bahn-Haltestelle, deren Linie den Hauptschwung der arbeitenden Bevölkerung zu ihren Arbeitsplätzen karrt. Die Linie, dessen kreischendes Gekrächze der metallenen Räder den abrupten Halt ankündigt, der sogleich signalisiert, dass das Leben in der Stadt ein Leben aus Vollgas – und Vollbremsung ist. Zu knappe Fahrpläne, die eingehalten werden wollen, und Stechuhren, die gelocht werden wollen. GPS-Daten, die einen noch weiter antreiben – und einem den schnellsten und einfachsten Weg zeigen. Aber eben nicht den schönsten.

In der Steinzeit war das Leben hart. Kalte, tiefe Ritzen im Stein dienten als Unterschlupf, in denen Feuer geschürt wurde. Für einen selbst, für die Liebsten, und vielleicht mal für einen hineinschneienden Fremden, der zwar kalten, aber dafür frischen Wind mit sich brachte – in die triste Einödnis des Lebens aus Jagen, Rennen, und Flüchten – aus Krankheit, mangelnder Hygiene, schlechten Zähnen und kurzer Lebenserwartung. Das Leben war hart – und irgendwie war alles gleich. Und naja, manchmal bekam der Fremde natürlich auch eins mit der Keule. Wer weiß das schon genau?

Heute pfeift der Wind durch die langen Tunnel der Haltestelle. Dieser erste kalte Wind, direkt nach dem Sommer. Die Menschen an den unterirdischen Steigen ziehen ihre Krägen hoch, wenn sie denn welche haben, so übermüdet und übereilt sie – die Fahrpläne sind ja knapp und streng – das wärmende Haus verlassen haben. Sie legen sich die Haare zurecht, im Spiegelbild der Plexiglasscheiben einer U-Bahn, welche am gegenüberliegenden Gleis hält. Legen sich mit einem vorsichtigen Griff, ganz unbeobachtet – wie sie glauben – den Pimmel auf die richtige Seite, und gucken nochmal, ob sie alles haben: Handy, Schlüssel, Portemonnaie. Die Bewaffnung der modernen Überlebenskünstler.

Wenn der Zug dann einfährt, und alles vorbereitet ist, geht es schnell zur Sache. Zu schnell für jemanden, der zu erschöpft ist, sich dem Willen des Schwarms zu beugen. Taschen werden in Kniekehlen geschleudert, es wird im Weg gestanden, es wird geschubst, dazu siedend heißer Kaffee aus instabilen Pappbechern, Gefahr über Gefahr – ehe das eigene Handy herunterfällt. Und eine Frage aufkommt: Ticken alle noch ganz richtig? Halb auf den Knien wird über den Boden aus roten speckigen Steinen gekrabbelt, frisch imprägniert mit dem zähen Film des vergangenen Wochenendes. Da, das Handy. Die Waffe für den Tag. Ein schneller Griff und es wird wieder aufgestanden. Es wird sich emporgereckt, in der morgendlichen Panikhast, die der streng getacktete Halt des Zuges in der Masse der zur Arbeit Fahrenden auslöst. Und schließlich wird sich selbst an die Taschen gegriffen: Brust, Seite, Gesäß. Handy, Schlüssel, Portemonnaie. Ja, alles da. Währenddessen rempeln Körper in einen rein und es wird sich angetrieben. Bis das Innere der Bahn endlich erreicht ist. Und die Türen sich zischend schließen.

Im Innern ist es warm, und es wird sich gegenübergestanden. Jedoch ohne sich anzuschauen. Kleine peinliche Berührungen in der wartenden Menge werden mit einem schüchternen Zurückziehen des Körperteils und einer sofortigen Entschuldigung in die Welt des Zufalls und der Rechtfertigung verfrachtet. Keine Kommunikation. Keine Ansprache. Nur Kopfhörer. Und: Spiegelbilder. Eine Frau, jung und schön, wenn sie nicht aussehen würde wie alle anderen, beschaut ihr Bild in der Reflexion des in der Dunkelheit fahrenden U-Bahn-Zuges. Sie beschaut es, und beschaut es nochmal. Dreht leicht ihren Kopf. Erst nach links, dann nach rechts. Dann wieder nach links. Fallen die Haare auf beiden Seiten gleich? Sie geht sich mit dem langen Nagel des rechten Zeigefingers ans Gesicht und trennt eine scheinbar auffällige, dicke Strähne aus Haaren in zwei gleich große kleinere Strähnen. Alles muss perfekt sein. Alles muss liegen. Wie bei – wie hieß sie noch gleich? Die aus dem, ach, ich bin viel hübscher. Dann erst ist das Werk vollbracht. Bis zur nächsten Reflektion, die eigentlich jemanden anderes zeigt.

Dann gehen die Türen wieder auf und der Strom bricht los. Fließend, nein, reißend, keine Zeit für ein Hinterfragen – rechts aus der Tür hinaus, und die Rolltreppe hinauf. Zum unerwiderten Kuss der Sonne.
Nur einer nicht. Er bleibt am Steig stehen, muss auf die nächste Bahn warten. Und steht somit wieder im Weg, wird angerempelt, und erhält einen kurzen Fluch von einer dicken Frau, die ihr Schiff von Arsch nicht beim ersten Versuch an ihm und seinem Rucksack vorbeibekommen hat. Das Leben ist hart – und ihr Arsch ist es auch. Ein Spiegel täte ihr gut.

Als sich die Unruhe legt, liegt am gegenüberliegenden Bahnsteig ein Mann. Über drei Sitze verteilt und etwas ab vom Schuss der Masse. Seine Zehen ragen nackt und dreckig aus dem kaputten Schuhwerk hervor. Die Haare sind lang und verfilzt. Seine Jacke ist dunkelgrün und schwarz. Vor den Sitzen stehen zwei Einkaufstüten. Hab und Gut. Beziehungsweis Leer – und Gut. Verzeihung für das Wortspiel, denn es beschreibt den Kontostand eines armen Mannes.
So liegt er dort und schläft, auf den orangenen, festgeschraubten Plastikstühlen – mit allem, was er hat – und ohne Spiegel. Die Steine zwischen den Gleisen funkeln spitz und schwarz wie Kohle unter Tage, während der kalte Wind durch die tiefen Schächte jagt. Und der Mann liegt auf den Stühlen und schläft, erschöpft, gehört nicht dazu, ist ein Fremder, wie ein Mann aus einer anderen Zeit. Ein Fremder, der in einer Höhle Zuflucht gefunden hat.

Letzten Endes offenbaren einem dann die geschärften Sinne, dass sich gar nicht so viel verändert hat. Es gibt ein längeres Leben – und alles ist ein wenig hübscher geworden: aufrechter Gang, glatte Haare und viele weiße Zähne. Zum Pech des Einzelnen jedoch gesellt sich die Erkenntnis, dass ein schönes Gebiss, noch nie in irgendeinem Leben, ein schönes Lächeln ersetzt hat.

Bedeutungslos

Eine Kurzgeschichte mit dem Namen: Bedeutungslos. Das Bild zeigt einen Grabstein.

Eine Kurzgeschichte aus der Sicht von jemandem, der jemand anders sehr vermisst …

Lesedauer: 8 – 10 Min.


Ich gehe über die Straße. Trübselig schlendernd wie der Roboter in „Per Anhalter durch die Galaxis“. Doch ein wenig Freude ist da. Ich vermisse sie. Denn ich habe sie lange nicht gesehen. Viel zu lange. Und es würde noch viel länger so gehen, wenn ich mich nicht beeilen würde. Daher ziehe ich mein Tempo noch ein wenig an. Der Asphalt ist kalt, seine Oberfläche gefroren. Moment, ich sollte eigentlich langsamer gehen, das weiß ich.

Sophie hat angerufen und nach mir gefragt. Ich soll doch mal wieder vorbeikommen, „einen schönen Abend machen“, hat sie gesagt. Und ich sagte „okay“. Ein schöner Abend. Ich bin gerade auf dem Weg zu ihr und versuche auf dem Eis nicht auszurutschen. Auf meinem Telefon schaue ich in der App weiter und vergesse die glatte Straße. Wische nach rechts, wische nach links. Gefällt mir, gefällt mir nicht, sexy, hässlich, blond, brünett, like it, like it not. Ich schreibe kurz mit Monique. Auch ein schöner Name. Beides Französisch. Ach, wie ich sie vermisse.

Ich rutsche aus, mein linkes Bein entgleitet, und meine Schulter macht ein komisches Geräusch dabei. Aber ich fang mich, alles gut. Und da bin auch schon da. Die Eisenklinke des Tores ist kalt und klebrig gefroren. Wie Trockeneis. Ich will ins Warme. Ich geh‘ die schräge Auffahrt hoch und falle abermals fast hin. Die Schulter knackt noch mal. Immer noch alles gut. Das nächste Tor, wieder ein kalter Griff. Die Hände frieren. Ich seh‘ Sophie oben am Fenster stehen, scheinbar nackt, doch ich lasse mir nichts anmerken. Tue, als ob ich sie nicht gesehen hätte.

Ich klingle und zeitgleich wird in der ersten Etage der Türöffner betätigt. Das laute Surren zerschneidet die winterliche Geräuschkulisse. Ja, sie wartet bereits. Ich gehe hinein, putze mir auf der borstigen Schweinehaarmatte die Schuhe ab und steige die hölzernen Stufen der Treppe hinauf. Unter mir knarzt es wie auf der Straße. Erst frischer Schnee, jetzt altes Holz. Sophie steht an der Tür und trägt einen dezenten, hautfarbenen BH. Leicht durchsichtig, so wie ihr Slip. Wir küssen uns und sie fasst mir an den Schritt. Ihr warmer Atem ist wie die Luft in einem Auto. Und irgendwie wird mir schlecht. Sie drückt und knetet meinen Schwanz und ich spüre wie er trotz aller Übelkeit hart wird. Wenigstens er funktioniert.

Sophie ist beinahe so groß wie ich, hat langes, glattes, schwarzes Haar, und ihre Unterwäsche ist dezent und spärlich – fast als wäre sie nackt. Mein Schwanz ist steif, geschwollen. Sie greift fester zu und ich höre das Knarzen ihrer Nägel an meiner Jeans. Mein Mantel ist längst aus, die Wohnungstür längst hinter uns. Geschlossen? Offen? Wen interessiert das. Für diese kurze glückliche Zeit der Nähe, des Zuhörens, des miteinander Spielens. Ein Jam, eine Komposition, ein kleines Theaterstück. Diesen Fick, den nehm‘ ich noch mit.

Die Übelkeit ist längst wieder da, als ich leise meine Hose hochziehe. Ich weiß nur nicht recht warum. Oder doch? Ich bin früher schon nie gerne Auto gefahren, lieber zu Fuß gegangen. Das lag an diesem Plastikgeruch. Diese muffige, drückende Autoheizungsplastikluft. Aber Sophie? Ich weiß es nicht. Und ich vermisse sie immer noch. Doch wieso? Sophie liegt doch neben mir. Mein Sperma trocknet auf ihrem Hintern wie der Zuckerguss auf frischem Gebäck. Ich höre mein Handy irgendwo im Mantel wie es vibriert. Dann Stille. Dann vibriert es wieder. Dann wieder Stille. Draußen nimmt die Kälte Überhand. Dunkle, blattlose Baumkronen krallen sich in den blassen Himmel gleich schwarzen Gräten in einer teigigen Fischsuppe. Sophie furzt. Ich schaue auf mein Handy. Monique hat nochmal geschrieben. Und jemand anders. Celine. Na, haben wir beide morgen ein Date? Nur du und ich? Ihr Muttermal oberhalb der Oberlippe ist Lebensraum. Ein großes, dunkles Biotop. Ein rundes Grabmal. Doch wer wünscht sich schon den Tod? Celine ist peinlich und traurig, so wie ich, und ich wische einfach nach links. Auf Wiedersehen. Ich knöpfe mein Hemd zu, versuche über den Tellerrand nach draußen zu schauen und fange an zu weinen. Dann schreibe ich Monique, obwohl ich weiß, dass ich sie nicht sehen werde.

Zu Hause sitze ich am Fußende des großen leeren Bettes und starre an die Wand. Unter meinen baren Füßen knarzt der Holzfußboden. Alles dasselbe, aber niemals das Gleiche. Der Himmel hat sich von milchigem weiß in ein zähes grau verwandelt. Ein gelungener Wandel. Das Licht ist rar, doch es genügt für den Blick an die Wand aus zartem Grün. Grün wie der Kern einer frischen Pistazie. Grün wie das keimende Leben, wie die Hoffnung. Kleine Bilderrahmen zeigen dort an der Wand eine Frau in Weiß und Gold. Kleider wie eine Fassung aus Licht, und Rahmen wie der Ring um einen Diamanten. Nur schmückende Träger des edlen einzig Wichtigen. Mal lächelt sie, mal schaut sie ernst, mal schaut sie weg, mal zu mir hin – auf mein Replikat, direkt neben Ihr, auf dem Foto. Wir sehen verliebt aus.

Ich bin alleine. Ich wische mir frische Tränen aus dem Gesicht und breche auf den Teppich. Kleine halb aufgelöste Kapseln dümpeln vor sich hin und verlassen mich wie Rettungsboote ein sinkendes, stinkendes Schiff. Antidepressive Zwei-Mann-Schnellboote. Im Dreiertrupp. Na klar doch. So beiläufig wie die fragwürdigen Französinnen. Bis auf Sophie. Sie hatte was. Aber es war nicht genug. Ein kleiner Schnitt links, dann einer rechts. Zackig, konzentrieren. Ich schließe die Augen und warte. Ja, es geht schnell. Gott sei Dank. Meine Sinne entgleiten mir, mein Blick wird trüb, und ich spüre wie ich mir in die Hosen mache. Es wird warm. Aber ein wenig Angst wird erlaubt sein. Ich habe es zumindest probiert.
Dann verfliegt die Übelkeit, wie eine Schwalbe mit Überschall. Mir geht es gut. Und gleich bin ich bei dir mein Liebling. Gleich bin ich bei dir. Ich höre die Tropfen meines eigenen Blutes, wie sie auf den alten Holzfußboden prasseln. Erst beinahe fließend, dann langsamer, und dann nur noch vereinzelt, wie ein minutiöses Metronom. Bis es sich verliert, so wie ich sie verloren habe.