Das Leben ist mein Fleisch

Ausgedrückt.
Verloren.
Alles schwarz.

Am Kabel hängend,
ohne Enterhaken –
das passiert auch Schwergewichten.

Völlig am Ende.

Oft schon hab ich versucht zu widerstehen, aber:
keine Chance.
Resilienz: Minus 1.000; wenn nicht mehr.

Weitermachen.
Immer weitermachen.
Niemals aufgeben.

Ja, das ist der richtige Blues.

Leg noch eine Wurst auf den Grill!
Notfalls nehm ich noch ne Pille, denn:
wird schon schiefgehen.

Und eine nehm ich noch, ne Zigarette,
süchtig, wie ich bin –
nach dem Leben.

Ich will alles, dafür mach ich das.
Notfalls bis die Muskeln krampfen;
blockieren wie nach nem Headbutt in der Kneipe.

Mein Geist hält das schon durch;
denn der will und will und will.
Immer weiter.

Er treibt mich, pushed mich,
ist die einzige Kontrolle.
Eine fremde, kraftvolle Macht.

Wie ein wilder Wolf heult er, in dickem schwarzem Fell.
Noch schwärzer nur –
vor einem Bokeh aus weißem Schnee.

Komm schon! Eine Nase noch, nur eine.

Schwach.
Ausgepumpt.
Gemolken.

Nur noch Wundwasser!

Und doch: Ich mach weiter, mit dem Leben.
Immer weiter.
Bis zum letzten wunden Tropfen.

Leg noch eine Wurst auf den Grill …

Pergament und Staub

Uhrenticken.
Klicken eines Metronoms.
Tage fallen wie Laub.

Brodeln in der Lunge,
schneller Herzensschlag,
Pergament und Staub.

Eine Schwester, die nach Kippen riecht –
Pflichtfernsehprogramm.
Sechs Enkel und drei Kinder,
alle wollen mal ran.

Einmal drücken, etwas sagen.
Eine Klärung, letzte Fragen.
Graue Augen voller Tränen,
bis sie alle alsbald gehen.

Uhrenticken.
Klicken eines Metronoms.
Tage fallen wie Laub.

Husten in der Lunge,
schwacher Herzensschlag,
Pergament und Staub.

Nur sie bleibt dort, ganz allein –
betrachtet ihre Hände.
Geht in Gedanken durch Jahrzehnte,
geht durch Wände bis ans Ende.

Klein und zart und fahl und fleckig.
Das letzte Lachen: Laut und dreckig.
Sie schließt die Augen, unausweichlich –
ohne Tränen, die gabs schon reichlich.

Uhrenticken.
Klicken eines Metronoms.
Tage fallen wie Laub.

Brodeln in der Lunge,
letzter Herzensschlag,
Pergament und Staub.

Seele baumeln

Wenn ich durch die Strassen geh,
tut mir meine Seele weh.
Was ist das für eine Scheisse heute?
Ständig betteln –
nur die falschen Leute.

Gibst dich auf, legst dich hin,
und trotz allem:
Kein Verschnauf –
und auch kein Sinn.

Zahlen sollst du,
noch und nöcher.
In den Hosen:
Riesenlöcher.

Sammelst Flaschen,
räumst dabei auf,
kommts Ordnungsamt,
kriegst noch was drauf.

Drum klaust du dir ’nen Strick,
ganz schick.
Und hörst auf mit diesem Taumeln –

machst einen Knoten,
richtig dick,
und lässt die Seele –

nur noch baumeln.

Zeuge einer Flucht

Eine Kurzgeschichte mit dem Namen: Zeuge einer Flucht. Das Bild zeigt ein Fahrrad, angelehnt an einer Friedhofswand.

Eine Kurzgeschichte über ein Verbrechen. Und über einen Unschuldigen, der sich selbst für einen Täter hält …

Lesedauer: 8 – 10 Min.


Karl hatte die Frau gestern schon gesehen, am frühen, noch sonnigen Abend, als sie in demselben Zug war wie er. Sie stand an der Tür – und er schaute sie von seinem Sitz aus an. Sein Blick ging vorbei an den anderen, von der Wärme gebeutelten Fahrgästen, die mit müden Lidern durch die staubigen S-Bahn-Fenster blickten. Und für einen kleinen Moment, als er selbst kurz aus dem Fenster geschaut hatte, kam es ihm so vor, als hätte sie ihn beobachtet. So als würde sie ihn erkennen. Dann hatte sie sich jedoch schnell wieder weggedreht. Und Karl war sich nicht mehr ganz sicher, ob ihr Blick überhaupt ihm gegolten hatte. Hatte er?

Er hatte überlegt zu ihr hinzugehen, schließlich kannten sie sich aus einem dieser Schriftsteller-Kurse an der Universität. Sie hatte sogar an einem Tag des Seminars neben ihm gesessen, erzählte, sie mache irgendwas mit Tanz oder Kampfsport oder so. Ganz sicher war sich Karl dabei aber ebenfalls nicht. So viele Frauen in der Zeit des Studiums. Was er aber wusste, war, dass sie es war, die neben ihm gesessen hatte. Und er wusste auch, dass sie sich an ihn erinnern musste. Immerhin unterhielten sie sich über das Schreiben und irgendwie hatte er auch das lächelnde Profil ihres mädchenhaften Gesichtes in Erinnerung, wie sie neben ihm sitzt und ihm einen zugewandten Blick zuwirft, mit ihrem Lächeln und ihren feinen Wangengrübchen, die sich hinter den dunklen Strähnen ihres langen Haars verbergen. Und welche er auch jetzt im Zug wiedererkannte, auf ihrer sonnengebräunten Haut.

Erinnert sie sich nicht an mich? Scheiße, was wenn nicht? Das waren Karls Gedankenzüge gewesen. Und die waren eindeutig. Denn wenn sie ihn bemerkt hatte, wie er sie im Zug anstierte, dann würde er schon in Erinnerung bleiben, oh ja. Und zwar als jemand, der in seinen Mittdreißigern schöne junge Frauen mit langen dunklen Haaren in Zügen angafft, bis sie letztendlich angewidert oder verängstigt an der nächsten Haltestelle die Flucht ergreifen. Und wer weiß, vielleicht würde sie ihn sich sogar vorstellen, wie er sich dann zu Hause heimlich einen runterholt. Ja, so richtig mit Spucke, flatsch flatsch flatsch. Genau an sowas dachte Karl dann. Aber diese Gedanken gefielen ihm nicht. Nein, sie gefielen ihm überhaupt nicht. Und wenn die Frau, von der er nicht mal sicher sagen konnte, dass sie ihn angeschaut hatte, gewusst hätte, dass er auf dem Weg zu seiner Freundin war, gestern, als er im Zug saß und sie aufgeregt angaffte, in der Hoffnung, dass sie ihn erkennen würde, dann wären ihr solche Gedanken bestimmt nicht gekommen. Nein, ganz bestimmt nicht. Aber für so viel Smalltalk war einfach keine Zeit gewesen. Die S-Bahn-Tür war an der erstbesten Haltestelle mit einem pneumatischen Zischen auf – und direkt wieder zugegangen. Sie hat mich doch ganz bestimmt gesehen, oder? Karl hatte sich im anfahrenden Zug noch mal umgedreht – doch sie verschwand direkt hinter einigen Büschen auf einem hinabführenden Weg an der Haltestelle. Und dann war sie weg. Nicht mal für ein „Hallo“ war Zeit gewesen. Oder ein „Lange nicht gesehen.“ Scheiße, nicht mal ein dämliches Winken war drin.

Umso passender war die Chance, die sich ihm bot, als ihm die Frau, an dessen Name er sich bei aller Anstrengung nicht erinnern konnte, wieder begegnete. Heute, an einem sonnigen, brütend heißen Großstadttag. Ja, er konnte seinen eventuellen Perversen-Eindruck wieder abschütteln. Und auch die Erinnerung, die dieser in seinen Gedanken hinterlassen hatte. Denn vielleicht hatte sie ihn einfach nicht erkannt, ja sogar nicht mal bemerkt, und alles war nur in seinem Kopf. Aber das konnte nur sie beantworten. Und genau sie war es, die gerade um die Kurve an der Kreuzung Lindemann- und Langestraße kam. Und sie fuhr direkt auf Karl zu. In der Sommerhitze des Freitagnachmittags fuhr sie mit ihrem silbernen Damenrad fast auf der Mittellinie und strampelte kräftig, wenn auch sitzend, in die Pedale. Es lagen hundert, vielleicht hundertfünfzig Meter zwischen ihnen, aber er erkannte sie bereits als sie um die Kurve fuhr. Er musste ja auch die ganze Nacht an die peinliche Situation des Vortags denken. Umso mehr – so dachte er sich – müsste sie sich doch auch an mich erinnern, oder? Wenn ich sie doch schon auf so weite Distanz zu erkennen vermag.

Na komm schon, sprich sie an, dachte sich Karl. Warum sollte man Leute, die man mal kennengelernt hat, nicht ansprechen dürfen? Falsche Scham? Schüchternheit? „Schwachsinn“, sagte Karl leise zu sich selbst und ging weiter. Entschlossenheit war in seiner Statur. Jugendliche Entschlossenheit. Er ging aufrecht mit großen Schritten in ihre Richtung. Fast übereifrig. Links neben ihm das Altersheim, und über ihm die Balkons, deren Schatten ihn vor der heißen Mittagssonne schützten.

Das Mädchen fuhr schnell und kam ihm immer näher. Karl zog kurz an seinem Hemd, um es von der feuchten Brust zu lösen und schaute zu ihrem Gesicht – versuchte Blickkontakt herzustellen. Er befand sich auf dem linken Bürgersteig und steppte ein wenig näher an den Straßenrand, in die heiße Sonne hinein – und hob die Hand zum Schutze über die Augen. Die Frau war fast da, sie raste, beinahe wie auf der Flucht, auf ihrem Rad auf ihn zu, als er den rechten Zeigefinger erhob, wie als wenn er sich in einem Klassenzimmer melden wollte. Er reckte den Finger nach oben und sagte laut, aber mit einem Lächeln: „Jetzt erkenn‘ ich dich aber wieder. Das bist du ja tatsächlich“. Er hoffte, sie würde ihm die Scharade abkaufen, mit der er ihr andrehen wollte, dass er sie gestern nicht erkannt hatte. Denn schließlich hatte er sie ja nicht gegrüßt. Wann geht ein Mann schon einfach so auf eine Frau zu und sagt: Hey, kennen wir uns nicht von woher? Scheiße, die meisten Mädels drehen sich doch sofort weg, wenn sie sich nicht erinnern und halten einen für jemanden, der nur in ihre feuchte Möse schlunzen will. Billige Anmache. Überhaupt dachte Karl, dass alle immer nur das Schlechte von ihm denken. Aber heute nicht, nein. Heute nicht. Auch wenn das ‚in die feuchte Möse schlunzen‘ seine Gedanken waren.

Er überwand seine Schüchternheit und seine schlechten Gedanken und schritt mit einem Bein auf die Straße, als sie fast vor ihm war – und stellte sich ihr wie ein Geisterfußgänger in den Weg. Er erkannte sie. Sie war es, ganz klar. Sie fuhr auf ihn zu, strampelnd, ein schweißiger Film auf der Stirn, während unter der Bluse im strampelnden Rhythmus ihr voller Busen waberte. Er lächelte sie an, wollte sie nochmals begrüßen – aber da fuhr sie in einem geschwungenen Bogen an ihm vorbei. So schnell, dass er den Wind spüren konnte. Sie fuhr einfach vorbei, und er drehte sich ihr nach. Die Speichen der Räder surrten. Und das Surren wurde bereits leiser. Es war für einen kurzen Moment laut, und dann wurde es leiser, ganz schnell leiser. Karl dachte, sie hätte ihn angeschaut, und dann wieder direkt gekonnt ignoriert, wenngleich er sich dem, aufgrund der Kürze des Blickkontakts, im Anschluss darauf wieder gar nicht mehr sicher war. Was habe ich falsch gemacht? Scheiße verdammt. Kann man es so eilig haben? Hat sie mich nicht gehört? Leider erhielt er darauf nur eine Antwort. Denn in dem Moment, als sie an ihm vorbeifuhr, dem Moment kurz vor seinen wieder einmal auftretenden negativen Gedanken, die sie mit ihrem Verhalten heraufbeschwörte, konnte er noch ihre rechte Ohrmuschel sehen: Keine Kopfhörer.

Verunsichert schaute er die Hausfassade des Altersheims hoch, in der Hoffnung, durch die Rentner unbeobachtet geblieben zu sein. Dann dachte er daran, was passieren würde, wenn er sie irgendwann wiedersehen täte. Ob sie sich ihren Mantelkragen hochziehen und ihren Kopf von ihm wegdrehen würde, wie eine Frau, die sich vor einem Peiniger verstecken will. Vielleicht würde er sie ja in dem Park treffen, welcher in der Nähe der Kreuzung ist und welcher im Sommer immer voller Menschen ist. Sie würde vielleicht auf einer Decke mit ein paar Freundinnen sitzen, vielleicht sogar mit einer, die ebenfalls in dem Seminar war, und er würde wieder sein Lächeln aufsetzen, versuchen bei aller Schüchternheit möglichst freundlich und selbstsicher zu wirken, und zu ihnen hingehen um „hallo“ zu sagen. Nein, das würde ich nicht tun. Und wenn doch: Sie würde mich keines Blickes würdigen. Ihre Freundinnen würden sich angewidert und bedrängt abwenden. Was ist denn das für ein Freak? Oh nein, ganz sicher würde ich das nicht tun. Karl konnte nicht aufhören zu denken, und jeder seiner negativen Gedanken war ein lebendiger Beweis dafür. Nichtsdestotrotz versuchte er eine Logik zu finden und rief seine Freundin an. Sie saß gern zuhause auf dem Balkon und las in aller Stille – auch bei dieser Hitze. Sie war die perfekte Partnerin für ihn. Und vielleicht hatte sie eine Erklärung für dieses Verhalten.

Während er zu ihrem Namen im Telefonbuch scrollte, ging er um die Kurve, in die Richtung, aus der die Frau gekommen war. Und hörte ein Kind schreien. Oder zwei? Ja, zwei Kinder. Er hob seinen Blick vom Handy ab und sah einen Mann auf der Straße liegen. Er lag auf dem Bauch, den Kopf zur Seite gedreht. Weit zur Seite gedreht. Zu weit. Das Gesicht, wenn es mal eines gewesen ist, trug auf der ihm zugewandten Seite keine Haut mehr. Sie befand sich in heruntergeschabten Schlieren auf dem dazugehörigen Meter Asphalt, der in gerader, blutiger Spur zum verdrehten Kopf führte. Und das Fleisch, welches sonst feinste Bewegung wie ein zahmes Lächeln ermöglichte, hing plattgeklopft von den Knochen hinunter. Carpaccio, dachte Karl zuerst. Dann überfiel ihn die Realität. Der Mann war tot. Blut trocknete bereits zwischen den kleinen Teerkügelchen auf dem Asphalt. Das linke Bein des Mannes war am Knie gebeugt, jedoch in eine andere Richtung. Karl dachte an das kleine Mädchen im Exorzisten, an die Szene, in der es auf dem Rücken die Treppe hinunterrennt. Das würde der Typ nicht mehr schaffen. Dann hörte Karl wieder die Schreie der Kinder. Eines war ein Baby. Die Schreie kamen aus dem Wagen, der direkt in der Laterne geparkt war, welche die Motorhaube bis zur Hälfte der Frontscheibe geteilt hatte. Der Airbag war geöffnet. Und ebenfalls blutig. Das sah er durch die alten Scheiben des Ford Escorts. Das eine Kind verstummte und nur noch das Baby schrie. Karl konnte das differenzieren. Die Hitze, der geschärfte Blick, angespitzt durch die Gedanken, die ihm die damalige Kommilitonin auf dem Fahrrad bereitet hatte. Sein Blick wanderte über das Auto. Hinten saß ein kleiner Junge, der das Baby auf dem Arm hatte. Die Schreie hörten sich nach einem normal schreienden Baby an. Kein Grund zur Beunruhigung. Dann schaute Karl nochmals auf den Mann. Tot. Mausetot. Es hatte ordentlich geknallt. Der Fahrer rührte sich ebenfalls nicht. Schien nicht angeschnallt gewesen sein. Idiot, war Karls erster Gedanke, dann armer Hund. Und: die arme Familie. Dann kam eine Frau auf ihn zu gerannt. Ihre Augen waren aufgerissen, wie auf der Flucht, oder auf der Jagd? Sie blickte Karl an, als ob sie ihm eine reinhauen wollte, voller Wut. „Rufen sie die Polizei“, rief sie ihm zu, schäumend, mit einer undeutlichen, vor Hass gurgelnden Stimme und blutigen Spuckeblasen auf der Unterlippe. Wie von Geisterhand sprang er aus seiner Kontaktliste und wollte 110 wählen, doch er hielt es für klüger zuerst die Ambulanz anzurufen. Die Frau kam näher auf ihn zu. „Wählen sie die 110, sofort.“ Er wählte dennoch die 112. Sie stand direkt vor ihm, mit weit aufgerissenen Augen. Das Adrenalin und der Puls schienen sie bis zum Mond zu schießen, und wieder zurück zu werfen, bis sie vor ihm anfing, völlig losgelöst zu weinen – und bis sie sagte: „Es ist ihre Schuld. Es ging so schnell. Einfach bei Rot. Mein Mann hat versucht zu bremsen, aber … aber … dann ist er ausgewichen. Diese Hure.“
Karl schaute sie an, und begriff erst nicht, wen die Frau meinte, während sie zerstört auf dem Boden kniete und zu ihm hinaufblickte.
„Haben sie nicht die Frau auf dem Fahrrad gesehen?“

Bedeutungslos

Eine Kurzgeschichte mit dem Namen: Bedeutungslos. Das Bild zeigt einen Grabstein.

Eine Kurzgeschichte aus der Sicht von jemandem, der jemand anders sehr vermisst …

Lesedauer: 8 – 10 Min.


Ich gehe über die Straße. Trübselig schlendernd wie der Roboter in „Per Anhalter durch die Galaxis“. Doch ein wenig Freude ist da. Ich vermisse sie. Denn ich habe sie lange nicht gesehen. Viel zu lange. Und es würde noch viel länger so gehen, wenn ich mich nicht beeilen würde. Daher ziehe ich mein Tempo noch ein wenig an. Der Asphalt ist kalt, seine Oberfläche gefroren. Moment, ich sollte eigentlich langsamer gehen, das weiß ich.

Sophie hat angerufen und nach mir gefragt. Ich soll doch mal wieder vorbeikommen, „einen schönen Abend machen“, hat sie gesagt. Und ich sagte „okay“. Ein schöner Abend. Ich bin gerade auf dem Weg zu ihr und versuche auf dem Eis nicht auszurutschen. Auf meinem Telefon schaue ich in der App weiter und vergesse die glatte Straße. Wische nach rechts, wische nach links. Gefällt mir, gefällt mir nicht, sexy, hässlich, blond, brünett, like it, like it not. Ich schreibe kurz mit Monique. Auch ein schöner Name. Beides Französisch. Ach, wie ich sie vermisse.

Ich rutsche aus, mein linkes Bein entgleitet, und meine Schulter macht ein komisches Geräusch dabei. Aber ich fang mich, alles gut. Und da bin auch schon da. Die Eisenklinke des Tores ist kalt und klebrig gefroren. Wie Trockeneis. Ich will ins Warme. Ich geh‘ die schräge Auffahrt hoch und falle abermals fast hin. Die Schulter knackt noch mal. Immer noch alles gut. Das nächste Tor, wieder ein kalter Griff. Die Hände frieren. Ich seh‘ Sophie oben am Fenster stehen, scheinbar nackt, doch ich lasse mir nichts anmerken. Tue, als ob ich sie nicht gesehen hätte.

Ich klingle und zeitgleich wird in der ersten Etage der Türöffner betätigt. Das laute Surren zerschneidet die winterliche Geräuschkulisse. Ja, sie wartet bereits. Ich gehe hinein, putze mir auf der borstigen Schweinehaarmatte die Schuhe ab und steige die hölzernen Stufen der Treppe hinauf. Unter mir knarzt es wie auf der Straße. Erst frischer Schnee, jetzt altes Holz. Sophie steht an der Tür und trägt einen dezenten, hautfarbenen BH. Leicht durchsichtig, so wie ihr Slip. Wir küssen uns und sie fasst mir an den Schritt. Ihr warmer Atem ist wie die Luft in einem Auto. Und irgendwie wird mir schlecht. Sie drückt und knetet meinen Schwanz und ich spüre wie er trotz aller Übelkeit hart wird. Wenigstens er funktioniert.

Sophie ist beinahe so groß wie ich, hat langes, glattes, schwarzes Haar, und ihre Unterwäsche ist dezent und spärlich – fast als wäre sie nackt. Mein Schwanz ist steif, geschwollen. Sie greift fester zu und ich höre das Knarzen ihrer Nägel an meiner Jeans. Mein Mantel ist längst aus, die Wohnungstür längst hinter uns. Geschlossen? Offen? Wen interessiert das. Für diese kurze glückliche Zeit der Nähe, des Zuhörens, des miteinander Spielens. Ein Jam, eine Komposition, ein kleines Theaterstück. Diesen Fick, den nehm‘ ich noch mit.

Die Übelkeit ist längst wieder da, als ich leise meine Hose hochziehe. Ich weiß nur nicht recht warum. Oder doch? Ich bin früher schon nie gerne Auto gefahren, lieber zu Fuß gegangen. Das lag an diesem Plastikgeruch. Diese muffige, drückende Autoheizungsplastikluft. Aber Sophie? Ich weiß es nicht. Und ich vermisse sie immer noch. Doch wieso? Sophie liegt doch neben mir. Mein Sperma trocknet auf ihrem Hintern wie der Zuckerguss auf frischem Gebäck. Ich höre mein Handy irgendwo im Mantel wie es vibriert. Dann Stille. Dann vibriert es wieder. Dann wieder Stille. Draußen nimmt die Kälte Überhand. Dunkle, blattlose Baumkronen krallen sich in den blassen Himmel gleich schwarzen Gräten in einer teigigen Fischsuppe. Sophie furzt. Ich schaue auf mein Handy. Monique hat nochmal geschrieben. Und jemand anders. Celine. Na, haben wir beide morgen ein Date? Nur du und ich? Ihr Muttermal oberhalb der Oberlippe ist Lebensraum. Ein großes, dunkles Biotop. Ein rundes Grabmal. Doch wer wünscht sich schon den Tod? Celine ist peinlich und traurig, so wie ich, und ich wische einfach nach links. Auf Wiedersehen. Ich knöpfe mein Hemd zu, versuche über den Tellerrand nach draußen zu schauen und fange an zu weinen. Dann schreibe ich Monique, obwohl ich weiß, dass ich sie nicht sehen werde.

Zu Hause sitze ich am Fußende des großen leeren Bettes und starre an die Wand. Unter meinen baren Füßen knarzt der Holzfußboden. Alles dasselbe, aber niemals das Gleiche. Der Himmel hat sich von milchigem weiß in ein zähes grau verwandelt. Ein gelungener Wandel. Das Licht ist rar, doch es genügt für den Blick an die Wand aus zartem Grün. Grün wie der Kern einer frischen Pistazie. Grün wie das keimende Leben, wie die Hoffnung. Kleine Bilderrahmen zeigen dort an der Wand eine Frau in Weiß und Gold. Kleider wie eine Fassung aus Licht, und Rahmen wie der Ring um einen Diamanten. Nur schmückende Träger des edlen einzig Wichtigen. Mal lächelt sie, mal schaut sie ernst, mal schaut sie weg, mal zu mir hin – auf mein Replikat, direkt neben Ihr, auf dem Foto. Wir sehen verliebt aus.

Ich bin alleine. Ich wische mir frische Tränen aus dem Gesicht und breche auf den Teppich. Kleine halb aufgelöste Kapseln dümpeln vor sich hin und verlassen mich wie Rettungsboote ein sinkendes, stinkendes Schiff. Antidepressive Zwei-Mann-Schnellboote. Im Dreiertrupp. Na klar doch. So beiläufig wie die fragwürdigen Französinnen. Bis auf Sophie. Sie hatte was. Aber es war nicht genug. Ein kleiner Schnitt links, dann einer rechts. Zackig, konzentrieren. Ich schließe die Augen und warte. Ja, es geht schnell. Gott sei Dank. Meine Sinne entgleiten mir, mein Blick wird trüb, und ich spüre wie ich mir in die Hosen mache. Es wird warm. Aber ein wenig Angst wird erlaubt sein. Ich habe es zumindest probiert.
Dann verfliegt die Übelkeit, wie eine Schwalbe mit Überschall. Mir geht es gut. Und gleich bin ich bei dir mein Liebling. Gleich bin ich bei dir. Ich höre die Tropfen meines eigenen Blutes, wie sie auf den alten Holzfußboden prasseln. Erst beinahe fließend, dann langsamer, und dann nur noch vereinzelt, wie ein minutiöses Metronom. Bis es sich verliert, so wie ich sie verloren habe.